Tichys Einblick
Katastrophe mit Ansage

Der Sozialstaat erreicht ein neues Rekordniveau – und wuchert weiter

Die Sozialleistungsquote steigt auf über ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts, zeigt der Sozialbericht. Auf deutlich niedrigerem Niveau führte Schröder einst die Hartz-Reformen ein. Deren Effekt ist längst von anderen Ausgaben überwuchert. Und die Bundesregierung stört sich nicht dran.

Olaf Scholz, Bundesminister der Finanzen, und Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales

IMAGO / photothek

Die Corona-Krise hat den Rekord komplett gemacht. Aber sie ist nicht die Ursache, sondern nur eine Fußnote in der langjährigen Geschichte vom Wuchern des deutschen Sozialstaates. Nun hat die Sozialleistungsquote, wie der Sozialbericht des Bundesarbeitsministeriums offenbart (bislang unveröffentlicht, aber die FAZ berichtet umfänglich aus dem Entwurf), die Schwelle von einem Drittel des deutschen Bruttoinlandsprodukt (BIP) überschritten. Sie lag mit 33,6 Prozent um 2,8 Prozentpunkte höher als auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009. Jeden dritten Euro, der hierzulande erwirtschaftet wird, nimmt der Staat also den Erwirtschaftern weg, um ihn anderen, seiner Auffassung nach Bedürftigen zu geben. In absoluten Zahlen: 1.190 Milliarden Euro. 

Und die Prognose aus dem Haus von Hubertus Heil (SPD) stimmt darauf ein, dass die Ausgaben weiter steigen: Trotz des erhofften neuen Konjunkturaufschwungs werde die Quote 2025 bei 32 Prozent liegen, fast drei Prozentpunkte höher als zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts. Mit anderen Worten: Der Sozialstaat wächst im Aufschwung und im Abschwung. Von Beschränkung hält man in der Bundesregierung nichts mehr.

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Erinnert sich noch jemand? Vor etwa 20 Jahren war es das große Thema der Talkshows von Sabine Christiansen, als sich diese Quote bei mäßigem bis sehr geringem Wirtschaftswachstum erhöhte und der 30-Prozent-Marke näherte, was man als Alarmzeichen für die Überforderung des Sozialstaats wertete. Das war für Gerhard Schröder und Franz Müntefering der Grund, die Agenda 2010 in die Wege zu leiten mit den so genannten Hartz-Reformen, also deutlichen Leistungskürzungen für Langzeitarbeitslose als Herzstück. Die Folgen sind bekannt: Die Sozialquote sank (allerdings blieb sie weiter deutlich über den 24,9 Prozent von 1991) und Deutschlands Wirtschaft wurde vom europäischen Sorgenkind wieder zur Wachstumslokomotive, Schröder dagegen verlor die Zuneigung seiner SPD und schließlich die Macht an Angela Merkel. Nun, nach 16 Jahren Merkel sind die Effekte der Agenda also endgültig aufgezehrt, längst nicht nur durch die Finanzkrise und die Corona-Krise. Doch von großer Sorge vor einer Überforderung des Staates wie vor 20 Jahren ist im Politik- und Medienbetrieb nichts zu vernehmen, von einem Aufstand der Steuer- und Abgabenzahler oder von Alarmrufen der Wirtschaftsverbände nicht viel.

Im vorangegangenen Sozialbericht des SPD-geführten Bundesarbeitsministeriums von 2017 stand zwar noch: „In Aufschwungphasen ist dagegen eher mit sinkenden Sozialleistungen bzw. mit einem Rückgang der Sozialleistungsquote zu rechnen.“ Eigentlich einleuchtend, aber in der Merkel-Ära war davon nichts zu bemerken: Die Sozialleistungsquote war schon in den Boom-Jahren 2011 bis 2019 von 28,8 auf 30,3 Prozent gestiegen. Seit 2012 wachsen die Sozialleistungen alljährlich stärker als das Bruttoinlandsprodukt. Wie die vier Regierungen Merkels es schafften, die Sozialquote trotz (oder wegen?) meist satten Wirtschaftswachstums derart wuchern zu lassen, wird vielleicht einmal Gegenstand historischer Studien über den Niedergang der sozialen Marktwirtschaft sein. 

Dass diese Jahre der extremen Sozialstaatsexpansion auch Jahre extrem starker Asyl- und Armutszuwanderung waren, spielt übrigens in dem aktuellen Bericht keine Rolle. Zumindest erwähnt die FAZ das Thema nicht. Im alten Bericht nahm ein Kapitel „Migration und Integration“ zwar breiten Raum ein, allerdings fanden sich da kaum Zahlen und kein Versuch, den Anteil der entsprechenden Staatsausgaben an der Sozialquote zu bestimmen. So genau will man es in der Bundesregierung auch nicht wissen.

METZGERS ORDNUNGSRUF 51-2020
Und sie träumen weiter vom sozialpolitischen Wolkenkuckucksheim
Im Sozialbericht, beziehungsweise dem FAZ-Bericht über ihn, werden als Ursachen vor allem die beschleunigt steigenden Ausgaben für Renten- und Krankenversicherung genannt. Die Alterung der Gesellschaft belastet – wenig überraschende Prognose – die Sozialausgaben immer stärker: „Die gesetzliche Rentenversicherung wächst demnach von zuletzt 344 Milliarden auf 404 Milliarden Euro im Jahr 2025. Ihr Anteil am gesamten Sozialausgabenvolumen steigt dabei von 29,5 auf 30,4 Prozent. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung steigen der Pro­gnose zufolge von bisher 260 Milliarden auf 319 Milliarden Euro im Jahr 2025. Ihr Anteil erhöht sich von 22,3 auf 24 Prozent.“ Anteilsmäßig noch stärker werden die Ausgaben für Beamtenpensionen steigen (von 65,5 Milliarden auf 81 Milliarden Euro im Jahr 2025, sie machen dann nicht mehr 5,6, sondern 6,1 Prozent aller Sozialausgaben aus). 

Für die Arbeitslosenversicherung prognostiziert der Bericht dagegen einen geringeren Anteil der Gesamtausgaben (nur noch 2,5 Prozent der Gesamtsozialausgaben in 2025 statt 4,8 Prozent im Pandemiejahr 2020). Man rechnet also optimistisch mit künftig weniger Arbeitslosen und preist einen Wirtschaftsaufschwung ein, für den es keine Garantie gibt. So wie Adenauer einst glaubte, dass die Leute immer Kinder kriegen, glaubt die Bundesregierung offenbar, dass es immer Wirtschaftswachstum gebe.

Eins dagegen kann man wohl garantieren: Die Inanspruchnahme des produktiven Teils der deutschen Gesellschaft, also derer, die den Wohlstand erwirtschaften, für staatliche Umverteilung wird weiter steigen. Im Gegensatz zur Schröder-Ära scheint es aber nicht mal mehr ein politisch produktives Bewusstsein dafür zu geben, dass deren Fähigkeiten zur Finanzierung von staatlichen Ausgaben beschränkt sind. Ein neuer Schröder, der sein politisches Schicksal an die Eindämmung des Sozialstaats knüpft, ist unter den drei Kanzlerkandidaten nicht zu finden.

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