Lange dauerte die Sitzung des Koalitionsausschusses der bayerischen Staatsregierung nicht: Am Mittag trat Ministerpräsident Markus Söder schon vor die Presse, um zu verkünden, wie es in dem Fall Aiwanger weitergeht. Der hatte nach dem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“, die ihm unter Berufung auf anonyme Quellen unterstellt hatte, 1987 Verfasser eines antisemitischen Hetz-Flugblatts gewesen zu sein, erklärt, er habe diese Schrift nicht verfasst, und ihren Inhalt als „abstoßend“ verurteilt. Kurz darauf meldete sich der ein Jahr ältere Bruder Hubert Aiwangers, der ebenfalls auf dem Burkhart-Gymnasium Mallersdorf-Pfaffenberg zur Schule ging, und räumte ein, er habe damals das Flugblatt verfasst. Nach seiner Erinnerung habe Hubert Aiwanger die Zettel eingesammelt, um zu „deeskalieren“.
Die Koalitionsausschuss-Sitzung war überhaupt die erste seit Beginn der gemeinsamen Regierung von CSU und Freien Wählern 2018. Denn bisher lief die Zusammenarbeit politisch weitgehend reibungslos – obwohl es immer wieder zur persönlichen Konfrontation zwischen Söder und seinem Stellvertreter Aiwanger kam. Die erste fand während der Corona-Zeit statt, als Aiwanger zum Ärger des impfbegeisterten Ministerpräsidenten lange zögerte, sich das Vakzin spritzen zu lassen. Auch die Kundgebung gegen das Heizgesetz in Erding dürfte dem Regierungschef im Gedächtnis geblieben sein: Damals pfiff die Menge ihn aus, während sie den Wirtschaftsminister beklatschte.
Das alles schwang mit, als Söder am Dienstagmittag nach der Koalitionsausschuss-Sitzung erklärte, er wolle die bürgerliche Koalition fortsetzen, offenbar auch nach der Landtagswahl am 8. Oktober. Aber: Die bisherigen Erklärungen von Aiwanger reichten nicht aus. Aiwanger soll einen Katalog mit 25 Fragen beantworten. Das sagte der Chef der Freien Wähler (FW) zu. Er erklärte sich auch bereit, weitere Schulakten aus der Zeit öffnen zu lassen, als er im Alter von 16 beziehungsweise 17 das Gymnasium besuchte. „Die Zusammenarbeit mit den Freien Wählern hat sich bewährt, ist gut und wir wollen sie auch fortsetzen. Es gibt auch keinen Anlass, etwas daran zu ändern“, sagte Söder bei der Pressekonferenz. Aiwanger werde er nicht entlassen.
Gleichzeitig verkündete Söder aber auch, die Zusammenarbeit mit seinem Stellvertreter stehe ab sofort unter Vorbehalt: „Bis zur abschließenden Erklärung wäre eine Entlassung aus dem Amt eines Staatsministers ein Übermaß – die Sache ist tatsächlich über 30 Jahre her und er hat sich jedenfalls heute sehr klar davon distanziert. Ich sage aber auch: Das ist jetzt kein Freispruch oder Freibrief. Viele Menschen sind zutiefst empört und verunsichert und haben diese Fragen, so wie wir auch. Das heißt, es darf jetzt auch nichts mehr dazukommen.“
Die Taktik des Bayern-Chefs lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Aiwanger bekämpfen – aber die Koalition mit den Freien Wählern behalten. Noch am Montag hatte Söder bei einer Bierzelt-Rede im niederbayrischen Landshut den Wirtschaftsminister mit verstellter Stimme imitiert, die an Hitler erinnern sollte. Die Freien Wähler verfügen neben Aiwanger über keine andere Spitzenkraft. Söder hofft offenbar darauf, den Konkurrenten einen Dämpfer zu verpassen, indem er Aiwanger gewissermaßen die dunkelgelbe Karte zeigt und ihn unter Bewährung stellt.
Einige FW-Stimmen könnte die CSU derzeit auch dringend brauchen. In Umfragen liegt sie unter den magischen 40 Prozent. Und der Blick auf die Wahlprognose in Aiwangers Hochburg Niederbayern muss die Staatspartei hoch nervös machen. Dort liegt die CSU bei 33 Prozent, die Freien Wähler bei 25, die AfD bei 21 – die Grünen mit 6 und die SPD mit 5 Prozent erreichen in der überwiegend ländlich geprägten Region nur den Rang von Splitterparteien. Bayernweit stehen die FW bei 14 Prozent; ihre Aussichten sind gut, am 8. Oktober noch vor den Grünen zu landen.
Söders CSU bleiben kaum andere Bündnismöglichkeiten. Selbst wenn seine Partei noch auf über 40 Prozent steigen sollte, wäre eine Allianz mit der FDP höchst unsicher. Denn die Freidemokraten kämpfen in Umfragen knapp an der 5-Prozent-Hürde. Und eine Koalition mit den Grünen von Katharina Schulze, daran zweifelt kaum jemand innerhalb der CSU, würde die früher an absolute Mehrheiten gewohnte Unionspartei noch weiter herunterziehen. Und die SPD? In der CSU gilt es als ungeschriebenes Gesetz, die ewige Opposition dauerhaft zu ignorieren.
Der Traum Söders sieht offenkundig so aus: weiter mit den Freien Wählern – allerdings in einer handzahm gemachten Version.