Wer im Herbst des Jahres 2020 Erkältungssymptome verspürt, lebt gefährlich. Sucht der Schniefende einen Arzt auf, muss er sich einem Coronatest unterziehen. Das Testprozedere produziert ein Zertifikat, welches den Getesteten als eine „Verdachtsperson“ markiert, die sich bis zum Vorliegen eines negativen Testergebnisses in häusliche Quarantäne zu begeben habe, mit Auflagen der Art, dass die „Person“ getrennt vom Ehepartner zu schlafen hat.
Die amtsdeutsche Stigmatisierung eines unter Quarantäne gestellten Menschen als „Verdachtsperson“ ist nicht nur eine sprachliche Entgrenzung, sie ist bezeichnend für die Tonlage von Regierung und Behörden, mit der sie den „Krieg gegen Corona“ (so ein Redakteur kürzlich in der FAZ) glauben führen zu müssen. Erinnert sei nur an die „Zügel“, die angezogen werden (Söder), die Androhung „brachialen Durchgreifens“ (Merkel), die Freude darüber, dass man positiv Gestestete „erwischt“ habe (Lauterbach).
„Die Kontaktperson der Kategorie I hat ein Tagebuch zu führen“
In Bayern wird die „Isolation von Kontaktpersonen der Kategorie I und von Verdachtspersonen“ seit dem 7. Mai 2020 amtlich betrieben (Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege, Az G54e-G8390-2020/1277-1). Erstere sind „Personen, die einen engen Kontakt zu COVID-19-Erkrankten im Sinn der Empfehlungen ’Kontaktpersonennachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Coronavirus SARS-CoV-2’ des Robert Koch-Instituts gehabt haben.“
„Verdachtspersonen“ sind alle, „die Erkrankungszeichen zeigen, die mit einer SARS-CoV-2-Infektion vereinbar sind.“ Welche Rechtssicherheit eine unter Verdacht genommene Person hinter der merkwürdigen Begrifflichkeit „vereinbar mit einer Infektion“ finden kann, bedürfte sicherlich einer juristischen Klärung. Außerdem kennt die Corona-Bürokratie „Krankheitsverdächtige“, „Ansteckungsverdächtige“ und „Ausscheider“. Was immer letzteres sein mag.
Die „Verkündungsplattform Bayern. Recht“ präzisiert die „Anordnungen“ zum „Vollzug des Infektionsschutzgesetzes“ (BayMBl. 2020 Nr. 464 vom 18.8.2020). Jede „Verdachtsperson“, die „zu melden“ ist, wird nun endgültig zum anonymen Adressaten von „Vorschriften“, „Hygieneregeln“, „Allgemeinverfügungen“, „Verpflichtungen“. Markantester Textbaustein der gesundheitsministeriellen „Verkünd(ig)ung“: Die Floskel „müssen unverzüglich“. (Verkündungen verfügt ein Landesfürst im Absolutismus, die Verkündigung des Gotteswortes ist dem Pfarrer vorbehalten – ein demokratischer Staat sollte auf Augenhöhe mit dem Souverän kommunizieren.)
„Das Gesundheitsamt belehrt“: „Mahlzeiten werden nicht gemeinsam eingenommen“. Kleine Isolations-Erleichterung: „Der zeitweise Aufenthalt in einem zur Wohnung gehörenden Garten, einer Terrasse oder eines Balkons ist alleine gestattet.“ (In dieser verqueren Grammatik.) Nun halten sich Personen stets nur zeitweise auf dem Balkon oder im Garten auf. Selbst für unseren Aufenthalt auf dieser Welt gilt das Wörtchen zeitweise. Trotzdem meinen Beamte des Freistaats Bayern, das den Bürgern noch einmal ausdrücklich mitteilen zu müssen, damit keine Verdachtsperson die kommenden Herbst- und Winternächte auf dem Balkon verbringt.
Mit dieser totalitären Eigenerfassungs- und Auskunftspflicht im und aus dem Privatbereich nicht genug. Die „Person“ hat außerdem „Untersuchungen und die Entnahme von Untersuchungsmaterial durch Beauftragte des Gesundheitsamtes an sich vornehmen zu lassen. Dies betrifft insbesondere Abstriche von Schleimhäuten und Blutentnahmen.“
Geburtstag feiern unter Schutz- und Hygienevorbehalt
Das Grundgesetz äußert sich eigentlich eindeutig: Die Bestimmungen über die „Unverletzlichkeit der Wohnung“ (Artikel 13) und das „Recht auf Privatsphäre“ (abgeleitet aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1) garantieren den „Schutz der räumlichen Privatsphäre vor Eingriffen von staatlicher Seite.“ Wenn die Polizei an Haustüren klingelt, weil die falsche Autonummer vor der Tür parkt (geschehen während des Lockdown), wenn Eltern die Überprüfung der häuslichen Quarantäne ihrer Kinder angedroht wird, wenn erwogen wird, Familienfeiern zu kontrollieren – wo bleibt da noch „Privatsphäre“? Selbst-Überwachung im Alltag ist das Gebot der Stunde: „Christian Drosten möchte, dass viele Menschen Kontakt-Tagebücher führen.“ (n-tv).
„Vor Panikmache warnen Experten“ wie Christian Drosten, den n-tv zitiert. Es gäbe „zu viel Drama“. Das sagte er allerdings am 2. März 2020. Heute „rät“ der Staats-Virologe zur „Selbstisolation im Vorfeld von Familienbesuchen“. Vor dem Treffen „mit Oma und Opa“ seien „soziale Kontakte so gut es geht [zu] vermeiden.” Die verbale Corona-Ampel steht längst dauerhaft auf Rot. Was tun, wenn wirklich einmal verstärkter Viren-Verkehr aufzuhalten wäre?
Zum wiederholten Mal innerhalb eines Monats sieht Söder „Zahlen explodieren“, und befürchtet für Berlin einen „Kontrollverlust“. Wer außer ihm glaubt eigentlich, die Bundeshauptstadt hätte kritische Bereiche unter Kontrolle – etwa das Clanwesen, das Drogenmilieu, die Vermüllung ganzer Stadtquartiere? Wahrscheinlich noch nicht einmal Kanzleramtschef Helge Braun.
Söders eigentliche Botschaft steht andern Tags bei t-online: Von München, wo „knallhart“ „durchgegriffen“ wird, „kann Deutschland lernen“. „In München wird Maske getragen. Kollektiv.“ Es herrscht partielles „Alkoholverbot“. „Söder selbst“, so wird betont, hatte „beharrlich Druck gemacht“ – und schon bekommt München „binnen kürzester Zeit seine Corona-Zahlen wieder in den Griff, während in Berlin die Neuinfektionen steigen und Aktionismus herrscht“ (während der Bayern-Fürst mit ruhiger Hand Aktion an Aktion setzt). An der Bavaria, wo ohne Wiesn eine Teerwüste gähnt, so weit das Auge reicht, „patroullierte die Polizei in hoher Mannschaftsstärke“, „USK-Einheiten räumten in Vollmontur“ zwei „Feier-Hotspots“. Fazit: „In München wird Corona alles untergeordnet.“ „Vorbildlich“ für die ganze Republik.
„Alles Corona unterordnen“, das entspricht nicht ganz dem Verfassungsstaat, der Grundrechte, Gewaltenteilung und Debatte vorsieht, für die Einschränkungen von Rechten eine ausführliche Begründungspflicht des Staates verlangt, und wenn überhaupt, dann der Menschenwürde anderes unterordnet. Die ersten 20 Grundgesetzartikel lassen sich auch so zusammenfassen: Bürger sind nicht Objekte des Staates. Das scheint wichtigen Feldherren im Virenkrieg nicht mehr bewusst zu sein. Wie Christian Drosten, der Bürger dazu anhält, sich per Corona-Tagebuch selbst zu beaufsichtigen, plädiert Söder für eine Art des präventiven Freiheitsverzichts: „Ich erwarte von den Bürgern, dass sie aus Verantwortungsbewusstsein nicht mehr alles machen, was sie noch dürfen.“
Die meisten wissen, dass das SARS-CoV-2-Virus gefährlich ist und großen Schaden anrichten kann. Eine Mehrheit folgt verständlichen Schutzregeln, und hält sich aus Konvention sogar an unsinnige Anordnungen, etwa das Maskentragen auf öffentlichen Plätzen in München. Trotzdem behandeln Politiker, Staatsmediziner und ein Teil der Medien diese Bürger wie schwer erziehbare und unselbständige Wesen, die immer noch viel zu viele Freiheiten genießen.
Neuerdings hat der Münchner Ministerpräsident verfügt, dass Menschen aus „Hotspots“ nur noch mit negativem Corona-Test in den Hotels des Freistaats übernachten dürfen. Dies bedeute „eine Testpflicht de facto für Urlauber, die aus Risikogebieten nach Bayern kommen“. Innerdeutsch – wohlgemerkt. Bezahlen muss der verdächtig Reisende den Test selbst, sofern er keine Krankheitssymptome aufweist. (Warum er dann getestet wird? Staatsgeheimnis.)
Seit Donnerstag 0:00 Uhr gilt das „Beherbergungsverbot für Reisende aus deutschen Risikogebieten“. Bereits die Einreise-Quarantäneverordnung vom 15. Juni hatte Freistaatsbürger, die aus einem Risikogebiet „in den Freistaat Bayern einreisen“, dazu „verpflichtet“, sich „unverzüglich“ nach Hause „zu begeben“, um sich dort 14 Tage „abzusondern“, großzügig behördlich unterstützt: „Für die Zeit der Absonderung unterliegen die von Abs. 1 Satz 1 erfassten Personen der Beobachtung durch die zuständige Kreisverwaltungsbehörde.“ „Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen. Auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren.“ (Jesaja 35,8)
Nie waren die Klüfte zwischen Selbstanspruch und Wirklichkeit tiefer
In einer Zeit akkuratester verbaler Toleranzbefleißigungen aber, wo Adressierte im Namen des „Geschlechterspezifischen“ den Adressaten verdrängen (Duale Hochschule Baden-Württemberg, Heilbronn), wo die Hauptschule euphemistisch zur Mittelschule befördert wird, obwohl es keine Unterschule gibt, wo der Martinsumzug zum Fest der Lichter mutiert, damit sein christlicher Namensbezug niemanden ausgrenzen möge, wo die Heiligen Drei Könige 2020 in der Ulmer Weihnachtskrippe nicht mehr aufgestellt werden, weil die Figur des schwarzen Melchior (hebräisch für: „König des Lichts“) laut Kirchenvorstand als „problematisch“ gilt, wo die Milchmädchenrechnung als Tiefpunkt des Sexismus geächtet ist (LMU München), wo Lehrer (womöglich: Lehrpersonal) nicht mehr zeitgemäße Mütter und Väter bitteschön als Elternteil 1 und Elternteil 2 anzusprechen haben (Franziska Giffey) und folgerichtig die Muttersprache zur Erstsprache wird, wo es dem Schwarzfahrer an den Kragen geht, weil er gar nicht schwarz fährt, sondern nur ein „Fahrer ohne gültigen Fahrschein“ sein darf (Leitfaden für „Mitarbeitende der Berliner Verwaltung zum diversitysensiblen Sprachgebrauch“) – um nur ein kleines ABC der Korrektheit anzudeuten –, in einer solchen Atmosphäre sprachlicher Wohlerzogenheit gilt ein Mensch, der Schnupfen hat, als „Verdachtsperson“. Und wird damit mit jenen auf eine Stufe gestellt, die im Verdacht stehen, sich einer Gesetzwidrigkeit schuldig gemacht zu haben.
„Die Isolation hat in einer Wohnung zu erfolgen.“ Solche Sätze kennen kein Subjekt. Der Mensch, an den die Botschaft adressiert ist, kommt darin nicht vor. Oft wird an der „Sprache der Bürokratie“ bemängelt, sie eliminiere den Menschen als handlungsfähiges Wesen, um ihn sprachlich auf eine Dingebene zu stellen – so urteilte der Bonner Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber 1958 in seiner Studie „Verschiebungen in der sprachlichen Einschätzung von Menschen und Sachen“.
Höchstsensibilität auf der einen Seite, Verwandlung des Bürgers in ein Objekt staatlicher Verdachtsschöpfung auf der anderen: Nie waren die Klüfte zwischen Selbstanspruch und Wirklichkeit tiefer als in diesem „Krieg gegen Corona“. Die Schauseite des sensiblen Staates wird gerne zu Sonn- und Feiertagsreden pathetisch präsentiert und von den Medien hochglänzend multipliziert. Die Rückseite erhält der Bürger werktags per Behördenschreiben. Ohne Pathos, ohne Sensibilität. Und ohne medialen Aufschrei. Vielleicht hat das Neusprech-Wort „Adressierte“ insofern seine doppeldeutige Berechtigung.
Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor.