„Sie hat unser Leben ruiniert“, sagt die Mutter von Onur E., dem Ehemann der IS-Rückkehrerin Kim A. Die junge Frau, die unter dem Pseudonym Maryam A. berühmt ist, reiste 2014 mit Onur E. nach Syrien zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Jetzt muss sie sich vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt verantworten. TE berichtete bereits über den Auftakt und die vergangenen Prozesstage. Dem Spiegel-Journalisten Christoph Reuter erzählte sie ihre IS-Story, die sich heute bereits in der zweiten Auflage des Buches „Maryam A. – mein Leben im Kalifat“ befindet.
In den vergangen Tagen vor Gericht versuchte die IS-Rückkehrerin zu beteuern, dass sie nicht aus religiösen Gründen mit prominenten Salafisten verkehrte, sich verschleierte und zum IS reiste. Sie begründet dies viel mehr mit ihrer Herkunft aus einer zerrütteten Familie und mit ihrer Liebe zu dem türkisch-stämmigen Ehemann. Bereits beim ersten Prozesstag stand die Frage im Raum, ob sie nicht den damals jungen Onur E. radikalisiert hat. Oft werden die IS-Frauen als die naive, verführte Frauen dargestellt – doch können die Frauen nicht auch die Verführer zum Dschihad sein?
Alles fing mit der Begegnung mit Kim A. an
Sie befahl die Rolladen runter zu machen – niemand durfte sie sehen
„Seit er mit Frau A. zusammen war, hat er sich verändert. Auch innerlich. Er wollte nicht mehr die Nähe zu seiner Mutter. Er wurde streng religiös.“ Onur hätte nie zuvor gebetet. Nun sollte die Mutter auf einmal mit dem jungen Paar zusammen beten. Ganze zwei Wochen hätte das Paar bei Onurs Familie gelebt. „Das Zusammenleben war sehr brutal“, sagt die Mutter sehr aufgeregt. Die Familie musste für Frau A. tagsüber die Rollladen runter machen, damit „niemand“ Kim A. sehen konnte. „Wir saßen den ganzen Tag im Dunklen.“
Es sind bizarre Bilder, die die Mutter beschreibt. Der Richter fragt sie nach den Gründen. „Das waren religiöse Gründe“, entgegnet Onurs Mutter aufgebracht. Nicht mal der 15-jährige Sohn, der Bruder von Onur E. durfte an dem gemeinsamen Tisch sitzen. Die Angeklagte schaut die Mutter währenddessen nicht einmal an. Sie hat den Ellenbogen abgestützt und blickt nach unten auf den Tisch. „Wir waren alle total schockiert, so etwas haben wir noch nie erlebt.“ Auch durfte niemand bei der Familie zu dieser Zeit zu Besuch erscheinen, „Frau A. hat es verboten.“ Plötzlich schüttelt die angeklagte IS-Rückkehrerin den Kopf und ruft etwas leise vor sich hin in den Gerichtssaal. Ebenfalls sei es A. gewesen, die es der ganzen Familie, auch Onur, befohlen hätte, die Rollladen runter zu machen, erzählt die Mutter. Sie ist emotional zutiefst aufgebracht, redet sehr schnell. „Ich wollte meinen Sohn nicht verlieren, deshalb habe ich ‚ja‘ gesagt“, erklärt sie. Man kann die Verzweiflung aus ihrer Stimme heraushören. „Sie hat unser Leben ruiniert, die zwei Wochen waren brutal“, wirft sie nochmals hinterher. Im ganzen Gerichtssaal kann man ein Mitgefühl für die Mutter spüren.
„Männern hat sie nicht die Hand gegeben“
„Seit er mit ihr zusammen war, hat er den falschen Weg ausgesucht“, sagt Onur E.’s Mutter voller Überzeugung und mit einer zittrigen Stimme. Nachdem er Kim A. kennen lernte, sei er nicht mehr zur Schule gegangen. Zu seinen früheren Freunden habe er immer mehr Abstand genommen, bis der Kontakt gänzlich schwand. Nach dem zweiwöchigen Zusammenleben sei ihr Sohn „weg“ gewesen. Immer wieder habe sie ihren Sohn angerufen, doch er ging nicht ans Telefon. Die Mutter erzählt, welche Sorgen sie sich gemacht hatte. Kim A. hätte mit ihrem Sohn dann in Offenbach gelebt. Wenn er bei seiner Mutter zuhause – in der Nähe von Aschaffenburg – zu Besuch war, sei er extra nach Offenbach gefahren, um dort in eine Moschee zu gehen. Auch sei er zusammen mit Kim A. dort hingegangen. Dies passt wie so oft mit bereits getätigten Aussagen der Angeklagten nicht zusammen. An einem anderen Prozesstag hat Kim A. nur davon gesprochen, dass Onur in die Moschee in Offenbach ging. Sie selbst hätte angeblich nur zwei Moscheen in Frankfurt besucht, und allgemein sei sie nicht öfters als zehn Male in einer Moschee gewesen.
„Ich hasse Deutschland“, soll Kim A. gesagt haben
Ganz plötzlich hätte auch Onur E. zusammen mit Kim A. sich „arbeitslos gemeldet“. Der Mutter hätte das damals nicht gefallen und beide konfrontiert. „Ihr seid so jung, wieso müsst ihr vom Staat leben“, habe sie das junge Paar gefragt. „Diesen Weg hat Frau A. ihm gezeigt“, sagt sie mit einer leicht spürbaren Wut. Dann wird es noch spannender, als dieser Tag ohnehin schon ist. Kim A. hätte doch tatsächlich „Ich hasse Deutschland“ gesagt.
Der Richter konfrontiert auch die Mutter damit, dass A. behauptet, dass sie nicht verantwortlich für die Radikalisierung ihres Sohnes sei. „Wieso hat er sich dann sofort verändert?“, fragt die Mutter mit vollem Unverständnis und blick zu der Angeklagten. Doch das Problem ist, dass Onur E. der Mutter selbst nie direkt sagte, dass Kim A. ihn verändert habe. Als die Mutter mit ihrem Sohn ein Gespräch suchte, hätte er aber zu ihr gesagt: „Im Islam muss man so sein. Meine Freundin ist ja konvertiert.“ Als Frau A. sich bei ihnen zuhause aufgehalten hat, hätte sie sich immer Islam-Videos angeschaut und auch einige davon immer wieder zeigen wollen – wollte sie etwa ihre Vorstellung von einem Islam der ganzen Familie vermitteln, nicht nur Onur? Über den Inhalt kann die Mutter jedoch nichts aussagen. Der Verteidiger, Gregor Gysi, will darauf hinaus, dass Kim und Onur ja beide gleichzeitig religiöser wurden. Die Mutter will sich das aber keinesfalls gefallen lassen: „Mein Sohn hatte Ziele für die Zukunft, er war sehr sportlich“, beteuert sie.
„Mein Sohn hatte vorher sogar vor einer Fliege Angst“
Monatelang habe die Mutter dann nichts mehr von ihrem Sohn gehört. Mit Kim A. sei er verschwunden. Sie musste ihn als vermisst melden. Erst auf einem Polizeipräsidium in Offenbach erfuhr sie, dass ihr Sohn bei der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sei. „Ich war schockiert“, sagt sie in einem noch aufgebrachteren Ton als zuvor. „Mein Sohn hatte vorher sogar vor einer Fliege Angst – und jetzt soll er im Krieg sein?“ Von Syrien aus hätte er sich dann gemeldet, ab und zu haben Mutter und Sohn telefoniert. Doch beide hätten miteinander nie richtig sprechen können, weil die Mutter jedes Mal in Tränen zusammengebrochen sei. „Ich habe nur geflennt am Telefon.“ Jeden Tag und jede Nacht hat die Mutter auf den einen Anruf ihres Kindes gewartet. „Ich kann das als eine Mama zu ihnen beschreiben.“ Alles was sie wollte, war seine Stimme zu hören. Den letzten Anruf erhielt sie im Jahr 2018. Dann erst bekam sie 2019 zwei Briefe vom Roten Kreuz, in denen Onur E. ihr erklärt, dass er sich der kurdischen Miliz YPG gestellt hat und in einem Gefängnis in Nordost-Syrien sitzt.
Offiziell gibt es seit 2019 kein Lebenszeichen mehr von Onur E. „Seit sieben Jahren lebe ich Tag und Nach in Sorge. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich weiß nicht, ob mein Sohn noch lebt, noch atmet“, sagt die Mutter mit fließenden Tränen. Doch dann steht völlig überraschend die Verteidigung von Kim A. auf und sagt: „Frau E. wir haben die Information, dass ihr Sohn noch lebt, dass er noch atmet.“
Als Zuschauer ist man in dem Moment nahezu erleichtert. Doch als Journalist ist man eher höchst irritiert. Denn es ist sehr fragwürdig, wie gut diese Information tatsächlich sein soll. Und man fragt sich, ob der Mutter an dieser Stelle falsche Hoffnung vor den Augen des Gerichtes gemacht wird. Die Lage in den Gefangenenlagern in Nordsyrien ist äußerst prekär seit der Corona-Pandemie. Die Mutter entgegnete zu diesem „Informationen“ kein Wort. Sie versucht nur ihre Tränen wegzuwischen, als wüsste sie, dass sie sich möglicherweise nicht darauf verlassen kann – wie auch, von den Verteidigern der Frau, die „das Leben“ der Familie „ruiniert“ habe?