Tichys Einblick
TE-Reportage: IS-Braut vor Gericht (Teil 3)

Sind es Frauen, die Männer zum Dschihad verführen?

In Frankfurt steht eine IS-Rückkehrerin vor Gericht. Der Fall bricht mit dem Mythos, dass Frauen die Verführten sind. Womöglich sind es umgekehrt besonders auch die Frauen, die die Männer radikalisieren und zum Dschihad verführen.

Propaganda-Seite des IS im Internet

IMAGO / Andia

„Sie hat unser Leben ruiniert“, sagt die Mutter von Onur E., dem Ehemann der IS-Rückkehrerin Kim A. Die junge Frau, die unter dem Pseudonym Maryam A. berühmt ist, reiste 2014 mit Onur E. nach Syrien zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Jetzt muss sie sich vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt verantworten. TE berichtete bereits über den Auftakt und die vergangenen Prozesstage. Dem Spiegel-Journalisten Christoph Reuter erzählte sie ihre IS-Story, die sich heute bereits in der zweiten Auflage des Buches „Maryam A. – mein Leben im Kalifat“ befindet.

In den vergangen Tagen vor Gericht versuchte die IS-Rückkehrerin zu beteuern, dass sie nicht aus religiösen Gründen mit prominenten Salafisten verkehrte, sich verschleierte und zum IS reiste. Sie begründet dies viel mehr mit ihrer Herkunft aus einer zerrütteten Familie und mit ihrer Liebe zu dem türkisch-stämmigen Ehemann. Bereits beim ersten Prozesstag stand die Frage im Raum, ob sie nicht den damals jungen Onur E. radikalisiert hat. Oft werden die IS-Frauen als die naive, verführte Frauen dargestellt – doch können die Frauen nicht auch die Verführer zum Dschihad sein?

Alles fing mit der Begegnung mit Kim A. an

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Es ist ein hoch emotionaler Tag, denn als Zeugin sagt die Mutter von Onur E. vor dem Gericht aus. Sie ist eine türkisch-stämmige, integrierte und säkular lebende muslimische Frau. Als die 55-jährige Mutter den Gerichtssaal betritt, schaut die Angeklagte plötzlich sofort zur Wand. Sie will die Mutter nicht anschauen, oder kann es auch nicht. Im Jahr 2013 hat der jugendliche Onur seiner Mutter in einem Restaurant seine neue Freundin namens Kim vorgestellt. „Seit er sie kennengelernt hat, war er plötzlich nicht mehr zuhause. Ich habe mir Sorgen gemacht“, sagt die Mutter. Kim hätte damals schon ein Kopftuch und ein Gewand bis übers Knie getragen. Sie beschreibt ihren Sohn als einen weltlich aufgewachsenen Jungen, der immer mit seinen Freunden ausgegangen war, Party gemacht hat. „Er war ein sehr integriertes Kind. Wir waren eine normale, glückliche Familie.“ Er hatte lange Haare, einen Ohrring und trug immer eine Jeans. Ebenso ging er immer zur Schule; erst auf ein Gymnasium, dann auf eine Fachoberschule. Doch dann hätte Onur sich plötzlich „von Kopf bis Fuß verändert“. Die Jeans ersetzte er mit einer Stoffhose, den Bart ließ er lange wachsen und die Kopf-Haare rasierte er sich radikal ab. Alles hätte mit der Begegnung mit der konvertierten Kim A. angefangen.
Sie befahl die Rolladen runter zu machen – niemand durfte sie sehen

„Seit er mit Frau A. zusammen war, hat er sich verändert. Auch innerlich. Er wollte nicht mehr die Nähe zu seiner Mutter. Er wurde streng religiös.“ Onur hätte nie zuvor gebetet. Nun sollte die Mutter auf einmal mit dem jungen Paar zusammen beten. Ganze zwei Wochen hätte das Paar bei Onurs Familie gelebt. „Das Zusammenleben war sehr brutal“, sagt die Mutter sehr aufgeregt. Die Familie musste für Frau A. tagsüber die Rollladen runter machen, damit „niemand“ Kim A. sehen konnte. „Wir saßen den ganzen Tag im Dunklen.“

Es sind bizarre Bilder, die die Mutter beschreibt. Der Richter fragt sie nach den Gründen. „Das waren religiöse Gründe“, entgegnet Onurs Mutter aufgebracht. Nicht mal der 15-jährige Sohn, der Bruder von Onur E. durfte an dem gemeinsamen Tisch sitzen. Die Angeklagte schaut die Mutter währenddessen nicht einmal an. Sie hat den Ellenbogen abgestützt und blickt nach unten auf den Tisch. „Wir waren alle total schockiert, so etwas haben wir noch nie erlebt.“ Auch durfte niemand bei der Familie zu dieser Zeit zu Besuch erscheinen, „Frau A. hat es verboten.“ Plötzlich schüttelt die angeklagte IS-Rückkehrerin den Kopf und ruft etwas leise vor sich hin in den Gerichtssaal. Ebenfalls sei es A. gewesen, die es der ganzen Familie, auch Onur, befohlen hätte, die Rollladen runter zu machen, erzählt die Mutter. Sie ist emotional zutiefst aufgebracht, redet sehr schnell. „Ich wollte meinen Sohn nicht verlieren, deshalb habe ich ‚ja‘ gesagt“, erklärt sie. Man kann die Verzweiflung aus ihrer Stimme heraushören. „Sie hat unser Leben ruiniert, die zwei Wochen waren brutal“, wirft sie nochmals hinterher. Im ganzen Gerichtssaal kann man ein Mitgefühl für die Mutter spüren.

„Männern hat sie nicht die Hand gegeben“

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„Sie sitzt da und mein Sohn ist in Syrien, ich weiß nicht, wo er dort ist, ich weiß nicht, ob er noch lebt, ob er noch atmet“, die Mutter fängt an zu weinen. Jeder im Saal kann in dem Moment fühlen, was sie als Mutter durchmachen muss. Der Richter will auch wissen, wie Kim A. damals gekleidet war. Bereits beim Prozessauftakt behauptete die Angeklagte, dass sie sich vor allem verschleierte, damit die „Assis in Frankfurt“ sie nicht mehr auf der Straße erkennen würden. Dass sie dies aus radikal-religiösen Gründen tat, bestreitet A. Die Mutter beschrieb, dass Kim A. einen Nikab in schwarz trug, nur ihre Augen konnte man sehen. Zudem hätte sie sogar Handschuhe getragen. „Männern hat sie nicht die Hand gegeben.“  Zuhause hätte Frau A. ein normales Kopftuch getragen. Immer wieder hätte sie zu Onurs Mutter gesagt, dass sie eine Burka tragen solle; und dass die Mutter keine Ahnung vom Islam hätte. Dass sie ganz in schwarz verhüllt war, sei „ein komisches Gefühl“ für die Mutter gewesen: „Das hat alles nicht mit unserer Lebensweise übereingestimmt.“

„Seit er mit ihr zusammen war, hat er den falschen Weg ausgesucht“, sagt Onur E.’s Mutter voller Überzeugung und mit einer zittrigen Stimme. Nachdem er Kim A. kennen lernte, sei er nicht mehr zur Schule gegangen. Zu seinen früheren Freunden habe er immer mehr Abstand genommen, bis der Kontakt gänzlich schwand. Nach dem zweiwöchigen Zusammenleben sei ihr Sohn „weg“ gewesen. Immer wieder habe sie ihren Sohn angerufen, doch er ging nicht ans Telefon. Die Mutter erzählt, welche Sorgen sie sich gemacht hatte. Kim A. hätte mit ihrem Sohn dann in Offenbach gelebt. Wenn er bei seiner Mutter zuhause – in der Nähe von Aschaffenburg – zu Besuch war, sei er extra nach Offenbach gefahren, um dort in eine Moschee zu gehen. Auch sei er zusammen mit Kim A. dort hingegangen. Dies passt wie so oft mit bereits getätigten Aussagen der Angeklagten nicht zusammen. An einem anderen Prozesstag hat Kim A. nur davon gesprochen, dass Onur in die Moschee in Offenbach ging. Sie selbst hätte angeblich nur zwei Moscheen in Frankfurt besucht, und allgemein sei sie nicht öfters als zehn Male in einer Moschee gewesen. 

„Ich hasse Deutschland“, soll Kim A. gesagt haben

Ganz plötzlich hätte auch Onur E. zusammen mit Kim A. sich „arbeitslos gemeldet“. Der Mutter hätte das damals nicht gefallen und beide konfrontiert. „Ihr seid so jung, wieso müsst ihr vom Staat leben“, habe sie das junge Paar gefragt. „Diesen Weg hat Frau A. ihm gezeigt“, sagt sie mit einer leicht spürbaren Wut. Dann wird es noch spannender, als dieser Tag ohnehin schon ist. Kim A. hätte doch tatsächlich „Ich hasse Deutschland“ gesagt.

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Bei der  Mutter sei dies auf großes Unverständnis gestoßen: „Wo ich lebe, ist mein Land. Wir sind integriert. ‚Hassen‘ gibt es in unserer Familie überhaupt nicht.“ Kim A. hätte Deutschland gehasst, weil sie hier arbeiten und Steuerzahlen müsse. Es sind bisher viele Minuten vergangen, doch die Angeklagte hat bisher immer noch kein einziges Mal die Mutter angeschaut – oder anschauen können. Der Richter muss Kim A. und auch ihren Verteidiger Gregor Gysi in dem Moment zurechtweisen, da beide mit leisen Kommentaren störten. Ist der angeklagten Kim A. die Situation aus Schuldgefühlen unangenehm? Oder hat sie eine Abneigung gegen die Schwiegermutter, mit der es immer „Streit“ gab?

Der Richter konfrontiert auch die Mutter damit, dass A. behauptet, dass sie nicht verantwortlich für die Radikalisierung ihres Sohnes sei. „Wieso hat er sich dann sofort verändert?“, fragt die Mutter mit vollem Unverständnis und blick zu der Angeklagten. Doch das Problem ist, dass Onur E. der Mutter selbst nie direkt sagte, dass Kim A. ihn verändert habe. Als die Mutter mit ihrem Sohn ein Gespräch suchte, hätte er aber zu ihr gesagt: „Im Islam muss man so sein. Meine Freundin ist ja konvertiert.“ Als Frau A. sich bei ihnen zuhause aufgehalten hat, hätte sie sich immer Islam-Videos angeschaut und auch einige davon immer wieder zeigen wollen – wollte sie etwa ihre Vorstellung von einem Islam der ganzen Familie vermitteln, nicht nur Onur? Über den Inhalt kann die Mutter jedoch nichts aussagen. Der Verteidiger, Gregor Gysi, will darauf hinaus, dass Kim und Onur ja beide gleichzeitig religiöser wurden. Die Mutter will sich das aber keinesfalls gefallen lassen: „Mein Sohn hatte Ziele für die Zukunft, er war sehr sportlich“, beteuert sie. 

„Mein Sohn hatte vorher sogar vor einer Fliege Angst“

Monatelang habe die Mutter dann nichts mehr von ihrem Sohn gehört. Mit Kim A. sei er verschwunden. Sie musste ihn als vermisst melden. Erst auf einem Polizeipräsidium in Offenbach erfuhr sie, dass ihr Sohn bei der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sei. „Ich war schockiert“, sagt sie in einem noch aufgebrachteren Ton als zuvor. „Mein Sohn hatte vorher sogar vor einer Fliege Angst – und jetzt soll er im Krieg sein?“ Von Syrien aus hätte er sich dann gemeldet, ab und zu haben Mutter und Sohn telefoniert. Doch beide hätten miteinander nie richtig sprechen können, weil die Mutter jedes Mal in Tränen zusammengebrochen sei. „Ich habe nur geflennt am Telefon.“ Jeden Tag und jede Nacht hat die Mutter auf den einen Anruf ihres Kindes gewartet. „Ich kann das als eine Mama zu ihnen beschreiben.“ Alles was sie wollte, war seine Stimme zu hören. Den letzten Anruf erhielt sie im Jahr 2018. Dann erst bekam sie 2019 zwei Briefe vom Roten Kreuz, in denen Onur E. ihr erklärt, dass er sich der kurdischen Miliz YPG gestellt hat und in einem Gefängnis in Nordost-Syrien sitzt. 

Offiziell gibt es seit 2019 kein Lebenszeichen mehr von Onur E. „Seit sieben Jahren lebe ich Tag und Nach in Sorge. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich weiß nicht, ob mein Sohn noch lebt, noch atmet“, sagt die Mutter mit fließenden Tränen. Doch dann steht völlig überraschend die Verteidigung von Kim A. auf und sagt: „Frau E. wir haben die Information, dass ihr Sohn noch lebt, dass er noch atmet.“

Als Zuschauer ist man in dem Moment nahezu erleichtert. Doch als Journalist ist man eher höchst irritiert. Denn es ist sehr fragwürdig, wie gut diese Information tatsächlich sein soll. Und man fragt sich, ob der Mutter an dieser Stelle falsche Hoffnung vor den Augen des Gerichtes gemacht wird. Die Lage in den Gefangenenlagern in Nordsyrien ist äußerst prekär seit der Corona-Pandemie. Die Mutter entgegnete zu diesem „Informationen“ kein Wort. Sie versucht nur ihre Tränen wegzuwischen, als wüsste sie, dass sie sich möglicherweise nicht darauf verlassen kann – wie auch, von den Verteidigern der Frau, die „das Leben“ der Familie „ruiniert“ habe?


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