Tichys Einblick
SPD-Europawahlskandal

Der Felix Krull von Brandenburg

Würden Spitzenkandidaten von konservativ-liberalen Parteien ihre Wähler belügen, gäbe es Titelseiten und Sondersendungen. Sündigt ein Sozialdemokrat, wird die Affäre schnell kleingeredet, in den Hauptnachrichten versteckt und abgeräumt.

Bild: SPD Brandenburg

Brandenburg, die schöne Stadt an der Havel, wo einst der bodenständige Barbier Fritze Bollmann „uff m Beetzsee“ seine Angel aus- und reinwarf, hat jetzt einen Felix Krull der Neuzeit. Sein Name: Simon Vaut, SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl. Ein Ehrenwort, wie einst Rainer Barschel, mag er erst gar nicht geben. Die Beweislage für die bewusste Täuschung von Wählern und Partei über Wohnsitz, Lebens- und Familienverhältnisse ist erdrückend.

„Die Vorwürfe treffen zu: Ich habe nie in Brandenburg an der Havel gewohnt, sondern immer in Berlin“, gesteht der ehrgeizige Bundesbeamte Vaut kleinlaut. „Vor allem möchte ich um Verzeihung bitten, dass ich meine damalige, aus Brandenburg stammende, aber ebenfalls in Berlin wohnende Freundin für meine Europakandidatur instrumentalisiert habe.“ Freundin ist ein weit gefasster Begriff. Er hat eine Bekannte arglistig getäuscht und die Partnerschaft regelrecht erfunden.

Sie fuhr mit Vaut sogar zum SPD-Parteitag. Dort log er der Öffentlichkeit vor: „Zurück nach Brandenburg gelockt hat mich die Liebe in Gestalt von Doreen. Ich arbeite zwar in Berlin. Aber das schönste ist für mich der Regionalzug RE 1 um 18:07 Uhr, der mich abends zurück nach Brandenburg bringt.“ Vaut hatte im Wahlkampf für sich geworben, seit Jahren in Brandenburg an der Havel zu leben und dort seinen Lebensmittelpunkt zu haben. Seine angebliche Adresse hier: Kurstraße 1. Aber: Kein Klingelschild, kein Vaut-Mietvertrag, nur eine Sauna. Ergo – eine dreiste Lüge, deckte der kleine Lokalsender „SKB TV“ mit vielen weiteren pikanten Details auf. „Es ist so, dass mein Motiv auch war, dass ich irgendwann im Leben mal die Chance haben will, für ein Mandat zu kandidieren, und bis 2021 wird da ein Bundestagswahlkreis für die Partei frei“, schrieb er der angeblichen Partnerin in einem „Bekennerschreiben“.

SPD fällt auf Felix Krull von der Havel rein

Die Genossen fielen auf die Geschichte des Felix Krull von der Havel herein. Laut Chatprotokollen wurde er etwa gefragt, ob die Pendelei nach Berlin nicht anstrengend sei. Als die bisherige SPD-EU-Abgeordnete angab, nicht mehr anzutreten, und ihr Platz frei wurde, legte sich Vaut ins Zeug. Er bat die angebliche Freundin, ihn zum Parteitag nach Brandenburg zu begleiten. Sie willigte ein – war allerdings überrascht, dass er ihr laut Chatprotokollen schrieb: „Es würde mich freuen, wenn Du nachher ab und zu meine Hand hältst.“

Auf dem Landesparteitag habe Vaut die Delegierten dann „nach Strich und Faden belogen“, berichtet SKB TV mit Auszug aus seiner Rede: „Ich bin nicht allein gekommen, meine Partnerin Doreen ist hier im Saal.“ Sowie: „Zurück nach Brandenburg gelockt hat mich die Liebe in Gestalt von Doreen“. Und: „Ich bin wegen Doreen nach Brandenburg gekommen, und ich bin gekommen, um zu bleiben“. Die angebliche Partnerin stammt zwar aus Brandenburg, lebt und arbeitet aber seit Jahren in Berlin; in Brandenburg an der Havel war sie zuletzt vor sechs Jahren zu Besuch.

Nicht nur die Genossen ließen sich täuschen. Auch die Regionalzeitung „Märkische Allgemeine“ (laut Wikipedia seit 1. Januar 2012 im Besitz der Madsack Mediengruppe, bei der wiederum die SPD über Beteiligungen größte Kommanditistin ist), schrieb laut SKB TV, Vaut lebe seit einigen Jahren mit seiner Frau in Brandenburg an der Havel und sei im SPD-Ortsverein Neustadt-Wilhelmsdorf aktiv. Was allesamt nicht stimmt.

Der gebürtige Hamburger hatte nach seinem Studium in Potsdam schnell Karriere gemacht und zahlreiche Positionen in Partei und Fraktion durchwandert, in Brüssel und Berlin. Er war auch Redenschreiber für die Spitze des Auswärtigen Amtes und gehörte als Mitglied dem renommierten deutsch-amerikanischen Verein „Atlantik-Brücke“ an.

Zuletzt arbeitete Vaut als Referent im Bundeswirtschaftsministerium.

„Er wollte ein hochbezahltes Mandat, ob in EU oder Bundestag, das war ihm gleichgültig, Hauptsache Macht und Einfluss. Seine Gedanken darüber schrieb er einer Freundin in Berlin“, so der Stadtsender unter Berufung auf Chat-Protokolle.

Ertappt stellt Vaut jetzt seinen Wahlkampf ein, um „weiteren Schaden von der SPD abzuwenden“. Gewinnt er sein Mandat, muss er es abgeben, wenn es nach dem Willen der SPD geht. Seine Kandidatur niederlegen kann Vaut allerdings nicht mehr, weil die Bewerbung seiner Zeit rechtlich korrekt zustande gekommen ist. Klar, sein SPD-Landesverband verurteilt nun „die bewusste Täuschung durch den Bewerber“ und sein Parteichef Dietmar Woidke ist „persönlich schwer enttäuscht“. Nur für einen kurzen Moment.

Schließlich möchten SPD und manche Medien den Riesenschwindel fix als kleines Kavaliersdelikt abräumen und zur Tagesordnung übergehen. Die SPD neun Wochen vor der EU-Wahl ohne Spitzenkandidaten, das darf bald nicht mehr auffallen. Doch eine Petitesse waren die Bekenntnisse des Schwindlers Simon Vaut nicht. Denn der 41-jährige lebt tatsächlich nicht nur in Berlin und arbeitet im Bundeswirtschaftsministerium, sondern hat sich regelrecht ein Doppelleben konstruiert, von dem seine Wähler nichts wussten.

Ein professioneller Selbstdarsteller

Ebenso pikant: Selbstdarsteller Vaut wurde bei der Nominierung als externer Anti-Establishment-Kandidat verkauft, auch durch die Medien. Dabei gehörte er zum Parteiklüngel von Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel. In einer Kampfkandidatur setzte er sich gegen die Favoritin von SPD-Landesvater Woidke durch – die Ex-Juso-Chefin Maja Wallstein, eine brave Parteisoldatin. Viele sahen Vaut dagegen als hoffnungsvollen Quereinsteiger und Alternative zu den Apparatschiks. Es war sogar von einer „kleinen Revolution in Brandenburg“ die Rede.

Auch beim Moralisieren über andere steht Simon Vaut seinen Parteikollegen in nichts nach:

Bescheidenheit war Vauts Sache nicht. Er warb für sich mit gesponserten Wahlkampf-Geschenken. Zum Beispiel mit CDs inklusive einer persönlichen Begrüßung und der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven „Freude schöner Götterfunken“. Die Europahymne musste es schon sein: „Ein wunderschönes Hörvergnügen wünscht Ihnen Ihr Simon Vaut von der SPD Brandenburg“, grüßte er auf der CD-Hülle.

Die politische Dimension geht weit über Brandenburg hinaus: In Berlin gab es bereits seit Monaten Gerüchte über das Doppelleben des Gabriel-Schützlings. Deshalb stellt sich die Frage: Wussten Berliner Genossen Bescheid oder mussten sie zumindest etwas ahnen?

Kleinreden und schnell abräumen

Die großen Qualitätsmedien hat die Person und der Fall zur Recherche nicht animiert, nur den kleinen Lokalsender „SBK TV“. Na klar, ein Sozi würde so was natürlich nicht machen. Die Kinderpornoaffäre von Sebastian Edathy oder der Drogenkonsum von Crystal Meth durch Innenpolitiker Michael Hartmann ist doch längst vergessen. So viel Tücke traut man als linksgrüner Journalist nur AfD, FDP oder CDU zu. Schon am frühen Dienstagabend findet der Leser auf nachrichtentisch.de den SPD-Skandal zur Europawahl nicht mehr unter den Topmeldungen der Medienportale von Presse, Funk und Fernsehen. In der ARD-Tagesschau und in ZDF-heute herrscht „Bildausfall“ – kein Wort. Selbst den Videotexten von ARD, ZDF und RTL ist Lügen-Vaut keine Zeile wert. Ebenso die regionalen Blätter wie taz oder Berliner Zeitung sehen schon am Abend auf ihren Onlineportalen darin keine Spitzenmeldung mehr. Man stelle sich nur vor, ein AfD- oder FDP-Politiker hätte als Brandenburger EU-Spitzenkandidat einen politischen Hochstapler á la Felix Krull abgegeben. Lediglich die rbb-Abendschau macht mit dem Sozi-Skandal ihre Hauptsendung auf. Auch bei Welt und Focus Online ist der Schwindelanfall im SPD-Europawahlkampf vorn noch präsent. Bei Süddeutscher Zeitung und Spiegel Online hingegen muss man sich erst gezielt durch hintere Seiten wühlen, um auf Vauts Havel-Lügen zu stoßen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf!

Die mobile Version verlassen