Jens Spahn kritisierte die deutsche Politik und ihren Vertrauensverlust in einem NZZ-Interview. Der Tagesspiegel gab Sigmar Gabriel dazu die Gelegenheit eines Gastkommentars. Ob der Tagesspiegel wollte, was er kriegte, bezweifle ich. Denn diesen Kommentar hätte Gabriel auf Tichys Einblick veröffentlichen können, weil er nicht nur unzählige Beiträge auf TE zum Thema Staatsverwahrlosung bestätigt, sondern mit vielen TE-Autoren für das Ende der Wirklichkeitsverweigerung durch die politische Klasse eintritt.
Das kritischste, was Jens Spahn, der aktive Bundesminister, im NZZ-Interview sagte, findet sich in diesen zwei Absätzen:
„Vertrauen ging massiv mit der Flüchtlingsfrage verloren, aber nicht nur. Die Aufgabe des Staates ist es, für Recht und Ordnung zu sorgen. Diese Handlungsfähigkeit war in den letzten Jahren oft nicht mehr ausreichend gegeben. Die deutsche Verwaltung funktioniert sehr effizient, wenn es darum geht, Steuerbescheide zuzustellen. Bei Drogendealern, die von der Polizei zum zwanzigsten Mal erwischt werden, scheinen die Behörden aber oft ohnmächtig.“
„Schauen Sie sich doch Arbeiterviertel in Essen, Duisburg oder Berlin an. Da entsteht der Eindruck, dass der Staat gar nicht mehr willens oder in der Lage sei, Recht durchzusetzen.“
Da geht der gewesenen Bundesminister Sigmar Gabriel anders zur Sache, wenn er seinen Gastbeitrag so beginnt:
«Vom französischen Philosophen Alain Finkielkraut ist eine gute Definition von „politischer Korrektheit“ überliefert: „Nicht sehen wollen, was zu sehen ist“. So verstanden ist political correctness also weder ein zivilisierter Sprachgebrauch noch ist die Kritik an ihr gleichzusetzen mit der Missachtung gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen. Sondern es geht um Wirklichkeitsverweigerung. Um das Schließen der Augen vor unbequemen Realitäten aus Sorge, falsch verstanden zu werden, Beifall von der falschen Seite zu bekommen, aus Mutlosigkeit oder Rücksichtnahme und leider oft auch aus Gleichgültigkeit.»
Das Sein zwingt zum Schweigen und Lügen
„Wir sind diesen Teilen der deutschen (und europäischen) Wirklichkeit zu lange ausgewichen. Nicht zuletzt weil der größere Teil der politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten dieser Wirklichkeit im eigenen Lebensalltag nicht begegnet. Das war bequem für uns und für die, die wir haben gewähren lassen. Und immer unbequemer für die, die in ihrem Lebensalltag nicht die Chance hatten, auszuweichen.“
Gabriel spricht von „mindestens zwei Realitäten“ im Lande, „gut geordnete, sichere und mit allen Vorteilen einer modernen demokratischen Gesellschaften ausgestattete Lebensbereiche – und das genaue Gegenteil.“ Man müsse „die schwierigen Realitäten in den Blick nehmen … wie es Kommunalpolitiker wie der frühere SPD-Bezirksbürgermeister Neuköllns, Heinz Buschkowsky, oder der Gelsenkirchener Oberbürgermeister Frank Baranowski seit Jahren tun. Oder wie es jüngst die Verantwortlichen der Essener Tafel getan haben, denen wir Dank und keine staatlich verordnete Kritik schulden.“ Hört, hört.
Und dann weiß ich für einen Moment nicht mehr, lese ich jetzt Gabriel oder einen TE-Autor:
„Beschreibungen dieser Realitäten gibt es seit Jahren genug. Allerdings hat im wahrsten Sinne des Wortes auch die Entfernung vieler Entscheidungsträger von diesen Realitäten ebenso zugenommen. Biografisch, räumlich und intellektuell. Unsere Kinder gehen zumeist nicht in Kitas und Schulen mit mehr als 80 Prozent Migrantenanteil, wir gehen nicht nachts über unbewachte Plätze oder sind auf überfüllte öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, leben nicht in der Rigaer Straße in Berlin und wenn wir zum Arzt gehen, bekommen wir schnell Termine und Chefarztbehandlung selbst dann, wenn wir Kassenpatienten sind. Und vor allen Dingen: Wir ahnen nicht, wie man sich fühlt, wenn man jeden Tag arbeiten geht und trotzdem nicht vorankommt. Oder wie es ist, nach 45 Jahren Arbeit mit weniger als 1.000 Euro im Monat klarkommen zu müssen.“
Dass Gabriel dann Spahn vorhält, es ginge nicht nur „um den Kontrollverlust des Staats auf Fragen der inneren Sicherheit und des Grenzschutzes“, ist dem Anschein des Parteienstreites geschuldet, Gabriel hebt ihn gleich wieder auf, insdem er anfügt: „Um Missverständnissen vorzubeugen: Das gehört dazu.“
„Take back Control“
Und bei der folgenden Passage frage ich mich, wann hat das Gabriel wem in seiner Partei gesagt, und ich gehe davon aus, dass es jetzt in der SPD niemand niemandem sagt:
«Wenn 20 Prozent der deutschen Gemeinden weder eine Schule, einen Hausarzt, eine Apotheke noch einen Laden oder auch nur eine Bushaltestelle haben, dann gehört das für die dort lebenden Menschen auch zum „Staatsversagen“. Kein Wunder also, wenn ganze Landstriche die AfD zur stärksten politischen Kraft machen, weil nach Finanzamt, Amtsgericht, geburtshilflicher Abteilung nun auch das ganze Krankenhaus geschlossen werden soll. Es sind wie in den USA nicht selten „Can you hear me now“-Wahlen.»
Was Gabriel dann sagt, kommentiert sich selbst:
„Die Debatte um staatlichen Kontrollverlust anhand von Alltagskriminalität, mangelnder Abschiebepraxis für abgelehnte Asylbewerber, Grenzschutz oder arabischen Großfamilien und ihren Verbindungen zur organisierten Kriminalität zu führen, ist also durchaus berechtigt, aber sie greift zu kurz. Wer sich nur darauf konzentriert, hat möglicherweise den nachvollziehbaren Impuls, dieses Feld nicht den Rechtspopulisten zu überlassen. Am Ende wird es aber nicht klappen, wenn wir die Rechtspopulisten nur lautstark übertönen. Das demokratische Gemeinwesen wieder zu festigen, gelingt nur, wenn wir den Staat wieder stärken. Je heterogener eine Gesellschaft, desto mehr kommt es auf die staatlichen Institutionen an. Sie müssen allen gegenüber – egal welcher Herkunft, Religion und unabhängig von ihrer kulturellen oder politischen Prägung – Rechte und Pflichten, Normen und Werte durchsetzen.“
Den letzten Absatz von Gabriels Gastkommentar lasse ich unkommentiert (das mit Markt und Staat werden er und Gleichgläubige nie begreifen):
„Der starke Staat ist etwas anderes als der autoritäre Staat. Aber auf die Handlungsfähigkeit aller vom Volk ausgehenden Staatsgewalt kommt es an. So viel Markt wie möglich, aber so viel Staat wie nötig, um Daseinsvorsorge, Chancengleichheit, menschenwürdiges Altern ebenso sicherzustellen wie nachhaltige Integration, Schutz der Grenzen und der inneren Sicherheit.“
Willkommen in der Wirklichkeit heißt Gabriel sich selbst mit dieser zutreffenden Feststellung: „Der Ruf der Rechtspopulisten ‚Take back Control‘ ist nur deshalb populär, weil er auf Erfahrungen aufsetzt, die es tatsächlich gibt in unserer Gesellschaft.“