Um einen Ausdruck der Marxisten zu benutzen, ergeht sich die „bürgerliche“ Presse in Spekulationen über die vorgeschlagenen Kandidaten, die Katja Kipping und Bernd Rixinger im Amt der Parteivorsitzenden der Linkspartei nachfolgen sollen. Nimmt man die Kommentare von Spiegel bis Welt, die an die selige Zeit der Kreml-Astrologie erinnern, ernst, so steht die Thüringer Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow für einen pragmatischen Kurs, also für die Regierungsbeteiligung der Linken. Was Wunder, wenn man Dank Merkels Hilfe und Lindners Beistand die Regierung im Freistaat stellt?
Doch die eigentlichen Sympathien der bürgerlichen Presse scheinen der Fraktionsvorsitzenden der Linken im hessischen Landtag, Janine Wissler, zu gelten, weil sie im angenehm dezenten Maß den Schwefelgeruch der Weltrevolution verströmt, schließlich gehörte sie bis gestern noch dem trotzkistischen Netzwerk „Marx21“ an, dessen Ziel in der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung besteht. Aber ist das nicht ohnehin das Ziel der Linken? Und ist die Linkspartei nicht recht eigentlich eine kommunistische Partei, wenn man unter Kommunismus Lenins Rezeption des Marxismus versteht?
Aber auch die „Pragmatikerin“ Hennig-Wellsow äußerte im Spiegel: „Zum regieren braucht es realistische und radikale linke Einstellungen.“ Die Antwort darauf, wie „realistische und radikale linke Einstellungen“ zusammengehen, ist denkbar einfach und wird selbstverständlich von den Journalisten von Spiegel bis Welt aus Unkenntnis oder aus Sympathie nicht gestellt. Denn „realistische und radikale linke Einstellungen“, ist nur ein euphemistischer Ausdruck der Thüringer Parteichefin, für die von Lenin durchdeklinierte und von Stalin vulgarisierte Dialektik von Strategie und Taktik.
Ein angestrebter kommunistischer Staat lässt sich natürlich dem Gros der Wähler nicht vermitteln. Aber der Kampf gegen die „Rechten“, gegen die „Klimaleugner“, gegen die „Coronaleugner“, für „soziale Gerechtigkeit“ und für eine Ordnung, in der alle gleich, nur einige gleicher sind, hingegen schon. Man irrt sich, wenn man meint, dass der Streit in der Linkspartei sich um das Ziel dreht. Einzig und allein um den richtigen Weg dorthin, um die richtige Taktik ringen die verschiedenen Gruppen und Gruppierungen miteinander. Susanne Hennig-Wellsow bestätigt das auch in dem Spiegel-Interview, wenn sie sagt: „Ich bin der festen Überzeugung, dass eine Linke in Bewegung und eine Linke in der Regierung zusammengehören.“ Also Staatskanzlei und Antifa. Erfurt und Leipzig-Connewitz.
Was Linke unter Demokratie versehen, wird in den Worten der Berliner Landesvorsitzenden der Linken, Katinka Schubert, deutlich: „Der Antikommunismus, wo wir dachten, er wäre überwunden, wird im Moment dermaßen lebendig, was wir möglicherweise lange unterschätzt haben…wenige Wochen vor Thüringen wurde in Berlin eine linke Verfassungsrichterin nicht gewählt, die rechte Opposition feiert sich dafür, dass sie das verhindert hat, wir werden nächste Woche wieder eine feministische Juristin zur Wahl stellen – und warum? Weil wir jetzt die sogenannten liberalen Demokraten auch zwingen wollen, die Mauer nach rechts aufzubauen…wenn wir die Rechten isolieren wollen, wenn sie gesellschaftlich geächtet werden sollen, dann müssen wir eine Brandmauer aufbauen.“ In bester kommunistischer Manier will man wieder Menschen aufgrund ihrer Meinung und ihrer Überzeugungen „isolieren“ und „ächten“, weil sie nicht für den Kommunismus sind, und man will – und auch darin besitzt man ja historisch einschlägige Erfahrungen – wieder Mauern aufbauen.
Wie sehr die Vorstellungen der Linken von der Dialektik von Strategie und Taktik und von der Technik des Klassenkampfes, wie sie von Lenin entwickelt worden sind, wie sehr die Linke in Wahrheit also eine kommunistische Partei ist – sonst bräuchte sich Katinka Schubert nicht so sehr über den Antikommunismus zu erregen – wird in einem Aufsatz deutlich, den Michael Brie im April 2017 in der Zeitschrift Luxemburg unter dem Titel „Was tun in Zeiten der Ohnmacht? Von Lenin lernen und es anders machen“ veröffentlichte: „In einem war Lenin sich sicher: Die alten Klassen müssten erbarmungslos, schonungslos niedergehalten werden.“ Und ganz im Sinne der Äußerung der Berliner Landesvorsitzenden, die „isolieren“ und „ächten“ will: „Ihnen seien alle Freiheiten und Rechte zu nehmen. Weiter entwickelte Lenin die großartige Vision eines Rätesozialismus…“ Rätesozialismus ist nur ein euphemistischer Ausdruck jedoch für die Diktatur des Proletariats, die in Wahrheit eine Diktatur einer Partei, genauer des Führungszirkels einer Partei ist, der, ob er will oder nicht, immer diktatorischer wird agieren müssen, weil Wirklichkeit und Vision, Realität und Ideologie immer stärker auseinanderfallen. „Am Denkhorizont scheint so schon vor der bolschewistischen Machtübernahme ein Zustand auf, in dem einzelne gezwungen werden, im Namen der Diktatur der eigenen Klasse auf ihre Freiheit und demokratischen Rechte als einzelne zu verzichten…“ Was Brie als fatale Alternative bezeichnet, ist die Konsequenz marxistischen Denkens. Die Selbstentgrenzung und Selbstermächtigung in der Wahl der Mittel, in der Anwendung von Gewalt und Unterdrückung, die aus der Rechtfertigung, die beste Gesellschaft der Welt erschaffen zu wollen, resultiert, führt letztlich zu Genickschuss und Gulag – und nichts ist falscher als die Vorstellung, durch die Hölle des Gulags in den Himmel des Humanismus zu gelangen.
Um eine Vorstellung zu gewinnen, was unter der Dialektik von Strategie und Taktik zu verstehen ist, führt Brie aus: „Angelegt war aber ein instrumentelles Verhältnis zu den bäuerlichen, nationalen und antikolonialen Bewegungen. Sie erscheinen als niedere Form, der Führung bedürftig, gut nur, solange sie die sozialistischen Kräfte unterstützen und stärken.“ Wenn sich die SPD, die ihre historische Kommission abgeschafft hat, sich noch an das Jahr 1946 erinnern könnte, wüsste sie, was das heißt.
Genderismus, Postkolonialismus, „Antirassimus“, Identitätspolitik, Dekonstruktivismus, „Klimarettung“, Corona-Politik gelten lediglich als Hilfe und Unterstützung, als „Einstiegsprojekte“ für die Verwirklichung des Sozialismus.
Brie kommt in seinem Aufsatz, in dem er von Lenin lernen möchte, zu dem Schluss: „Der emanzipatorische Horizont verhieß jenen, die sich widersetzten, den Entzug aller und jeder demokratischen und Freiheitsrechte; und das zentrale Projekt war die von der bolschewistischen Partei ausgeübte „proletarische Macht“, die ihre Gegner*innen erbarmungslos unterdrückt.“
Wie schrieb doch Bertolt Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ Oder einfacher ausgedrückt: Sie sind wieder da – dreißig Jahre nach dem Mauerfall und dreißig Jahre nach dem (vorläufigen) Ende des Sozialismus.