Seyran Ateş gehört sicher zu den mutigen Deutschen der Gegenwart. Die Lebenswelt der Rechtsanwältin mit türkischen Wurzeln könnte gar als Schande für Deutschland bezeichnet werden, wenn man sich erst einmal darüber Klarheit verschafft, welche Verfolgungen, Morddrohungen, Anfeindungen übelster Machart und Übergriffigkeiten die Streiterin für einen gemäßigten Islam, für Demokratie, Feminismus und Menschenrechte in diesem Lande ausgesetzt ist.
Die Leidensgeschichte – so darf man es wohl nennen, wenn Ateş Mitte der 1980er Jahre nur knapp ein Attentat überlebt hat – der heute 55-Jährigen liest sich wie ein Katalog des Versagens der Sicherheitsbehörden dieses Landes. Immer wieder waren die Bedrohungen gegen Seyran Ateş und ihre Familie so massiv, dass sie ihre Tätigkeit als Anwältin mehrfach über Jahre niederlegen musste, um neuen Mut für ein neuerliches öffentliches Engagement zu fassen.
Ateş ist zu so etwas wie einer Hassfigur der islamistischen Szene geworden. Aber sie wird nicht nur aus der illegalen Szene heraus angegriffen.
Sicher aus einer Vielzahl bester Gründe ist sie heute Trägerin des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse – immerhin eine symbolische Geste, aber letztlich auch ein schwacher Trost und eine schwache Entschuldigung des deutschen Staates, hier so kolossal versagt zu haben.
Ateş ist Initiatorin und Mitbegründerin der gemäßigten Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, in der Frauen und Männer gemeinsam beten sollen. Und sie hat sich zur Imamin ausbilden lassen. Ateş erhielt nach Gründung der Moscheegemeinde weitere Morddrohungen und wird seitdem Tag und Nacht von der Polizei bewacht.
Ateş beklagt, dass es eine Reihe von vermeidbaren Problemen mit sich bringen würde, wenn an Migranten in Deutschland keine Forderungen gestellt werden würden. Schlimmer: Dieses Versagen würde Kräften Vorschub leisten, die an einem „ausschließlich durch ethnische Zugehörigkeit“ definiertem Deutschland“ interessiert seien. Das aber könne laut Ateş nicht im Sinne demokratisch denkender Bürger sein.
Für die Rechtsanwältin stellt sich die Sache simpel da: „Wer Einwanderung zulässt, ist dazu aufgerufen, ihre Kehrseiten zu minimalisieren. Und das kann nur mit einem Mindestmaß an Ehrlichkeit gelingen. Probleme müssen erst einmal benannt werden, bevor man zu ihrer Lösung schreiten kann.“
Die Schuldigen macht Ateş in den Leitmedien und Universitäten des Landes aus. Dort würde die Meinung vorherrschen, „Integration werde sich quasi von selbst einstellen, wenn nur die Hürden dafür möglichst niedrig seien. Manche gehen sogar soweit, zu behaupten, eine Nicht-Thematisierung von Integrationsproblemen könne dabei behilflich sein. Das ist nicht nur höchst ideologisch und demokratiepolitisch bedenklich, sondern auch empirisch fragwürdig.“
Besonders verwerflich für die engagierte Berlinerin ist es auch, dass beispielsweise die Zustimmungsraten für die von der AKP unterstützten türkischen Verfassungsreform von 2017 gerade „in den Everything-Goes-Paradiesen Deutschland, Frankreich und Belgien“ so hoch seien, während diese „in selbstbewusst-strengen, aber fairen Ländern wie Kanada und den USA weitaus niedriger“ ausfalle. Ateş beklagt, dass selbst in der Türkei nicht derart hohe Prozentsätze erreicht würden wie beispielsweise in ihrem Heimatland Deutschland.
Ursächlich für das Versagen einer Idee von Multikulturalismus sei die Akzeptanz selbst noch autoritärster Weltbilder, die gutgeheißen würden, aber „letzten Endes ein Weg in die soziale Katastrophe“ bedeuten.
Ateş beendet ihren Weckruf via Facebook so:
„Sehen wir der Wahrheit ins Auge: Wohlwollende Ignoranz schafft blinde Flecken – und blinde Flecken werden ausgenützt. Das Beste, das man hier seitens der Politik gegen den Vormarsch illiberaler und autoritärer Ausformungen der Kultur von Einwanderern aufzubieten weiß, ist das Bemühen von ausgelutschten Floskeln und eine verdatterte Bitte, doch den Zusammenhalt zu wahren.“
Eine tapfere Frau, die viel erlitten hat. Eine deutsche Muslimin, die nicht anders kann, als für ihre Ideale einzutreten. Und die dafür in Deutschland streng bewacht und beschützt werden muss vor Muslimen, die das alles ganz anders sehen. Die nichts anfangen können mit den Idealen dieses Landes. Die in Seyran Ateş offensichtlich so etwas wie eine Verräterin sehen, weil sie sich mit der deutschen Sache gemein macht.