Österreichs Bundeskanzler im Interview mit dem Focus. Erste positive Beobachtung: Dumme Fragen werden von Kurz in Kurzsatzform beantwortet. Und es gab einige solcher Fragen samt Schnellraterunde zum Abschluss mit so weltbewegenden Fragen wie dieser hier: „Gemeinsames oder getrenntes Schlafzimmer?“ Antwort Sebastian Kurz: „Kommt darauf an, mit wem.“ Oder diese hier: „Wer hat den härteren Händedruck: Putin, Trump oder Erdogan?“ Da Kurz Trump noch nie die Hand gegeben hat, entfällt eine Antwort.
Spannender wird es da, wo der Bundeskanzler seine Zuwanderungsagenda aufblättern darf. Kurz wird gefragt, ob die Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) mit ihrer hart antimigratorischen Haltung die Werte der EU gefährden würden. Für Kurz ist eine realistische und nicht nur von Emotionen geprägte Migrationspolitik sehr notwendig. Der Streit um Quoten muss beendet werden, für den Bundeskanzler hat die Sicherung der europäischen Außengrenzen Priorität. Ein Mittel der Wahl sei hier die Stärkung von Frontex: Das Mandat für die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache muss ein „robustes und klares“ sein. Und Kurz fügt weiter an: „Die Rettung aus dem Mittelmeer darf jedoch nicht das Ticket nach Mitteleuropa sein.“ Wenn Menschen im Mittelmeer aufgenommen werden, dann müssen sie nach Kurz „versorgt und zurückgebracht werden in die Herkunftsländer, Transitländer oder in sichere Zonen außerhalb Europas.“
Sebastian Kurz favorisiert den australischen Ansatz, der Inseln und Außenposten vorhält, „auf denen die Flüchtlinge festgesetzt werden, bis ihr weiteres Schicksal bestimmt ist.“ Eine Idealvorstellung von Sebastian Kurz wäre, gleich ganz zu verhindern, „dass überhaupt Boote ablegen – nicht nur, um illegale Migration zu stoppen, sondern auch, um Menschenleben zu retten, indem sich die Menschen erst gar nicht auf den Weg machen.“
Ziel wäre es aber, „die Chancen eines Flüchtlings in Österreich gegenüber den Herkunftsländern und bei den Schleppern so realistisch wie möglich darzustellen.“ Kurz weiß um die Attraktivität der Sozialsysteme, wenn „90.000 Menschen 2015 in Österreich um Asyl gebeten haben während nicht einmal 1.000 Menschen im Nachbarland Slowenien“ Asyl beantragt hätten, durch das alle diese Leute gezogen seien. Inwieweit Österreich nun seine Sozialleistungen für Asylbewerber denen Sloweniens anpassen will, fragen die Focus-Journalisten leider nicht nach.
Deutliche Einschätzung des Bundeskanzlers: „Die Grenzen zwischen der Suche nach Schutz und der Suche nach einem besseren Leben sind verschwommen.“ Aber Schuld sei nicht der einzelne Afrikaner, die Verantwortung läge bei der Politik, „wenn diese nicht imstande ist, funktionierende Systeme zu schaffen.“ Wären hier schmalere Sozialleistungen für Asylbewerber „funktionierende Systeme“? Der Focus fragt nicht nach.
Auf Macrons Europa-Visionen angesprochen, betont Kurz zunächst die Übereinstimmungen: „Wir sind einer Meinung, was die Themen Sicherheit, Grenzschutz und Kampf gegen illegale Migration betrifft.“ Bei seinen Reformvorschlägen zur Euro-Zone allerdings besteht Kurz auf einer unterschiedlichen Auffassung: „Bevor wir über die Schaffung neuer Institutionen im Euro-Raum nachdenken, sollten die bestehenden Regeln, vor allem die Maastricht-Kriterien, eingehalten werden, um ein zweites Griechenland zu verhindern.“
Auch die EU-Kommission steht bei Kurz in der Kritik: Der Vorschlag der zum Währungsfonds auf dem Tisch liegt, überzeuge ihn nicht. Auch was das neue EU-Budget angeht, geht Kurz auf Konfrontationskurs. Und seine Argumente entbehren nicht einer gewissen Logik: „Unser Ziel muss sein, dass die EU nach dem Brexit schlanker, sparsamer und effizienter wird. Dem trägt der Vorschlag der EU-Kommission noch nicht ausreichend Rechnung.“ Der Bundeskanzler erwartet hier „harte Verhandlungen“.
Was ein europäisches Verteidigungsministerium mit eigener Streitmacht angeht, wie es EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani geforderte hatte, betont Kurz allerdings die Neutralität Österreichs als Teil der Identität seines Landes: „Eine EU-Armee sehe ich (…) auf absehbare Zeit nicht.“ Dennoch sei mehr Zusammenarbeit im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik durchaus sinnvoll. Kurz sieht die Hauptaufgabe der EU zunächst in der Sicherung seiner Grenzen. Hier sei eine europäische Zusammenarbeit sinnvoll: „Der Kampf gegen illegale Migration wird eine wichtige Priorität unseres Ratsvorsitzes sein.“
So also der österreichische Bundeskanzler gegenüber dem westdeutschen Wochenmagazin. Die Zukunft wird zeigen, inwieweit Österreich seiner energischen zwar, aber doch leichtgewichtigen Stimme Gewicht verleihen kann, wenn die Zukunft der EU verhandelt wird. Schwerer wiegt hier sicherlich die Zustimmung und Popularität des Bundeskanzlers innerhalb der europäischen Bevölkerung, wenn eine Umfrage jüngst ergab, dass die Deutschen theoretisch Sebastian Kurz lieber als Bundeskanzler hätten als die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel. Noch zeigt sich die deutsche Regierung von solchen Sympathiebekundungen allerdings gänzlich unbeeindruckt.
Hofft man hier auf die nächste Umfrage oder Studie einer der regierungstreuen Stiftungen, die das Gegenteil belegen kann? Möglicherweise ist so eine Studie sogar schon in Auftrag gegeben. Die neuen Recherchenetzwerke der Leitmedien werden dann wieder zuerst davon erfahren und lange vor Veröffentlichung solcher Studien deren regierungskonforme Aussage transportieren.
Ja, noch wird so deutsche Politik vermittelt. Aber Leute wie Sebastian Kurz erschweren diese politischen Zwangsmethadongaben zunehmend. So wird dann jeder noch so schwammige Satz aus Wien zu einem Weckruf. Man will sich gar nicht vorstellen, was wäre, würden den Willensbekundungen aus Österreich nach und nach noch Taten folgen. Dann nämlich wird es nicht mehr darum gehen, ob Angela Merkel mit der Sehnsuchtsfigur der Deutschen nicht recht „warm wird“, dann wird es zur offenen Konfrontation kommen müssen. Dann jedenfalls, wenn Sebastian Kurz einer mit Euros oder sonst wie gepuderten Zwangsumarmung der Kanzlerin des übermächtigen Nachbarlandes widerstehen kann. Dann, wenn der junge Charismatiker Wort hält.