Martin Schulz will Bundeskanzler werden, indem er sich seiner Partei und den Wählern gemeinsam mit den Chefs der wichtigsten DGB-Gewerkschaften als Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats der Deutschland AG präsentiert. Bei der SPD und ihrer Anhängerschaft hat dies zu einem kollektiven Begeisterungstaumel geführt, der stark an die Willkommenskultur des Herbstes 2015 erinnert. Auch das Kanzleramt soll nun mit Hilfe einer Gesinnungsethik der universellen Menschenfreundlichkeit, die in Deutschland weit verbreitet ist, erobert werden.
Standen im September 2015 die Opfer von Krieg und Elend im Mittelpunkt alles Bestrebens, sollen bis September 2017 die Opfer der sozialen Ungerechtigkeit an deren Stelle treten. Der Unterschied zwischen beiden Opfergruppen besteht für Schulz vor allem darin, dass die einen wählen dürfen, während dies den anderen (noch) verwehrt ist. Deswegen haben „die Flüchtlinge“ in seiner Bewerbungsrede auf dem Parteitag auch keine Rolle gespielt, wohl aber die „hart arbeitenden“, dafür aber ungerecht behandelten Menschen, deren Wohlergehen er in den Mittelpunkt all seines Strebens und des Strebens seiner Partei stellen möchte.
Man darf gespannt sein, ob es Schulz mit dieser herzerweichenden sozialmoralischen Lyrik gelingen wird, in das Kanzleramt einzuziehen. Im Moment begeistert er damit vor allem seine Parteifreunde und das „links-grüne“ Milieu in Deutschland, denen er, in Abwandlung eines berühmten Slogans von Bill Clinton, gleichsam zuruft: It’s social justice – stupid. Dies entspricht deren gesinnungsethischen Orientierung und Gefühlslage, die von der Vorstellung lebt, die meisten Menschen seien Opfer ungerechter Verhältnisse, um deren Schicksal sich ein ebenso fürsorglicher wie barmherziger Staat allumfassend zu kümmern habe. Aus der Migrationskrise wissen wir, dass diese Haltung in der deutschen Bevölkerung zwar weit verbreitet, aber nicht ohne weiteres mehrheitsfähig ist. Überdies provoziert sie verantwortungsethische Gegenreaktionen, die im Falle der Migrationskrise schon weit fortgeschritten sind, im Falle von Schulz aber noch auf sich warten lassen.
Das dürfte nicht zuletzt auch damit zu tun haben, dass die CDU unter Merkel selbst gesinnungsethisch schon so stark infiziert (und belastet) ist, dass sie sich ziemlich schwer tut, Schulz und seine SPD verantwortungsethisch zu entzaubern. Deswegen wird es bis zur Bundestagswahl vor allem davon abhängen, ob und wie es CSU, AfD und FDP gelingt, diejenigen Bevölkerungsschichten anzusprechen und zu mobilisieren, die wissen, dass es zur Führung eines Unternehmens wie auch einer Volkswirtschaft nicht ausreicht, das Wohl der Menschen verbal in den Mittelpunkt allen Handelns zu stellen, wie ungerecht behandelt diese sich auch immer fühlen mögen. Die Alternative lautet angesichts dieser Sachlage im September daher nicht: Merkel oder Schulz ? Entscheidend wird für die kommenden Jahre vielmehr sein, wie die Mehrheitsverhältnisse zwischen SPD, Grünen und der Partei Die Linke auf der einen und CDU/CSU, AfD und FDP auf der anderen Seite sind. Fallen im kommenden Bundestag erneut die Wählerstimmen von AfD und FDP unter den Tisch, dann werden die Gesinnungsethiker Deutschland mit R2G regieren.
Nach einem sozial- und arbeitswissenschaftlichen Studium in Deutschland und Frankreich begann Roland Springer seine berufliche Laufbahn an den Universitäten Darmstadt und Göttingen mit Untersuchungen zum technisch-organisatorischen Wandel in verschiedenen Branchen. Danach war er mehr als zehn Jahre als leitende Führungskraft beim Personalvorstand der Daimler AG tätig. Anschließend gründete er eine eigene Beratungsfirma, die er bis heute als geschäftsführender Gesellschafter leitet.
Roland Springer arbeitet neben seiner unternehmerischen Tätigkeit als außerplanmäßiger Professor im Bereich Personal und Organisation an der Universität Tübingen. Seit Beginn des Jahres 2016 engagiert er sich nebenberuflich außerdem in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit.