Am 24. Januar 2017 gab Sigmar Gabriel seinen Verzicht auf die Kanzlerkandidatur der SPD bekannt und machte den Weg frei für Martin Schulz an die Spitze der Sozialdemokraten. Damit zog er die Konsequenzen aus seinen seit langem schwachen persönlichen Umfragewerten. Seine große Sichtbarkeit unter den wichtigsten Politikern, meist an dritter oder vierter Stelle hinter Angela Merkel, korrespondierte überhaupt nicht mit den schwachen Sympathiewerten, die er aus der Bevölkerung erhielt. In den Politbarometer-Befragungen der Forschungsgruppe Wahlen war er mit Einstufungen um 0,6 (Mittelwert einer Skala von +5 bis -5) stets in der unteren Hälfte der 10 wichtigsten Politiker platziert. Auf dieser Sympathie-Skala stuften die Anhänger der SPD ihren Parteivorsitzenden meist mit etwa 2,0 ein, während der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit Werten um 3,0 an der Spitze lag.
Maßgeblich für den Rückzug Gabriels und den Aufstieg von Schulz war aber die systematische Unterlegenheit Gabriels bei der Frage, wem gegen Merkel die besseren Chancen als Kanzlerkandidat eingeräumt werden. Im Juni letzten Jahres, als Schulz in der Öffentlichkeit noch nicht als möglicher Kanzlerkandidat gehandelt wurde, fand nur die Hälfte der SPD-Anhänger die Überlegung gut, Gabriel könne Kanzlerkandidat werden. In der September-Befragung des Politbarometers lag bei dieser Frage die Zustimmung zu Gabriel zwar bei knapp 60% der SPD-Anhänger, aber bei der Frage nach dem gewünschten Kanzler führte Merkel deutlich mit 56% vor Gabriel mit 30%, was sich bis Mitte Oktober nicht wesentlich änderte. Dass bei der Kanzlerfrage fast 40% der SPD-Anhänger bis Mitte Oktober Merkel als gewünschte Kanzlerin nannten, musste für den Parteivorsitzenden der SPD ein Debakel sein. Auffällig war auch die mehrheitliche Zustimmung der Anhänger von Die Linke und der Grünen für Merkel.
Dreh- und Angelpunkt: Unzufriedenheit mit Gabriel
Die äußerst schwache demoskopische Resonanz Gabriels fiel zeitlich zusammen mit dem absehbaren Ende der Amtszeit von Martin Schulz als Präsident des Europäischen Parlaments. Seine medial gut unterstützte Suche nach einer Anschlussverwendung katapultierte ihn dabei recht schnell in die deutsche Politik. So war er auch als möglicher Außenminister im Gespräch für den Fall, dass Frank-Walter Steinmeier der Kandidat der Großen Koalition für das Amt des Bundespräsidenten würde.
In dieser Situation ergab die offene Abfrage (keine Vorgabe von Namen), wer Kanzlerkandidat der SPD werden solle, in der Politbarometer-Befragung Ende Oktober, dass 28% aller Befragten für Schulz waren und 18% für Gabriel. Unter den SPD-Anhängern war der Vorsprung von Schulz mit 30% zu 27% für Gabriel nur gering. Die alternative Abfrage nach dem gewünschten Kanzler zeigte allerdings klare Vorteile für Schulz. Bei der Alternative zwischen Merkel und Gabriel führte Merkel mit 62% zu 25%. Bei den Vorgaben Merkel und Schulz nannten 48% Merkel und 37% Schulz. Während bei der Alternative mit Gabriel 53% der SPD-Anhänger für Merkel waren, erreichte Schulz die mehrheitliche (49%) Zustimmung der SPD-Anhänger. Schulz fand auch bei den Anhängern anderer Parteien Zustimmung. Bei der Vorgabe von Gabriel als Herausforderer hatten sich 90% der Unions-Anhänger für Merkel ausgesprochen, im Falle von Schulz als Gegner um die Kanzlerschaft waren nur noch 76% für Merkel. Schulz war auch für die Anhänger von Die Linke und der Grünen mehrheitlich attraktiver als Gabriel.
Trotz dieser deutlichen Vorteile von Schulz gegenüber Gabriel kann man nicht sagen, dass Schulz von dem sozialdemokratisch geneigten Teil des Wahlvolkes sehnsüchtig erwartet worden wäre. Die bereits angeführte offene Frage, wer Kanzlerkandidat der SPD werden solle, konnten knapp 30% der SPD-Anhänger nicht beantworten. Und bei der ebenfalls offenen Abfrage der wichtigsten Politiker Deutschlands Mitte November (es konnten bis zu fünf Namen genannt werden) gab es keine einzige Nennung zu Martin Schulz. Schulz war für diejenigen, die ihn kannten „nur“ ein führender Europapolitiker, den man als deutschen Innenpolitiker nicht auf der Rechnung hatte. Erst in der zweiten Woche im Januar, also noch vor dem Rückzug Gabriels, wurde Schulz für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar und bei der Frage nach den wichtigsten Politikern von 8% aller Befragten genannt, darunter waren 13% der damaligen SPD-Anhänger.
Die geringe Sichtbarkeit von Schulz bei den offenen Fragen, bei deren Beantwortung es auf spontane Reaktionen der Befragten ankommt, scheint nicht so recht zu seiner positiven Wirkung bei der Kanzlerfrage zu passen. Es spricht daher einiges dafür, dass die überaus positive Reaktion auf Schulz zum damaligen Zeitpunkt vor allem die Ablehnung Gabriels ausdrückte.
Gabriels Rücktritt „macht“ Schulz
Der Verzicht Gabriels auf die Kanzlerkandidatur und die Ankündigung Schulz werde an seiner Stelle Merkel herausfordern sowie neuer Vorsitzender der SPD werden am 24. Januar, markiert den Beginn einer sehr starken Veränderung des politischen Klimas in Deutschland. Die am selben Tag beginnende Politbarometerbefragung konnte das Ausmaß der Veränderungen wohl noch nicht voll einfangen. Die positive Reaktion der Bevölkerung auf Schulz wird aber deutlich erfasst. Schulz wird bei der Sympathiebeurteilung der 10 wichtigsten Politiker Deutschlands mit einem sehr guten Mittelwert von 2,0 hinter Steinmeier (2,5) an zweiter Stelle eingestuft, Merkel kommt mit 1,8 auf den 4. Platz. Gleichzeitig verbessert sich die SPD in der Wahlabsichtsfrage (von der Forschungsgruppe Wahlen wird diese Frage als Politische Stimmung interpretiert) von 21% Anfang Januar auf 29%. Bei der Frage nach dem gewünschten Bundeskanzler liegt Merkel mit 44% noch knapp vor Schulz (40%).
Diese Veränderungen setzten sich in der nächsten Politbarometer-Befragung fort, die am 14. Februar begann. In der Wahlabsichtsfrage verbesserte sich die SPD nun auf 42%, bei der Frage nach dem gewünschten Kanzler liegt Schulz nun mit 49% der Nennungen vor Merkel mit 38%. Gleichzeitig stellen aber 71% aller Befragten fest, Merkel mache ihre Arbeit als Bundeskanzlerin alles in allem gesehen eher gut. Schulz liegt nun, nach dem Ausscheiden Steinmeiers aus der Reihe der aktiven Bundespolitiker auf dem ersten Platz der 10 wichtigsten Bundespolitiker. Der Wechsel von Europa nach Deutschland ist Schulz und der SPD geglückt.
Die überaus starken Verbesserungen der SPD in der Wahlabsichtsfrage wirken sich natürlich auf die anderen Parteien aus, die nun alle schwächer notieren als Anfang Januar. Während die Unionsparteien ihre 40% von Anfang Januar zunächst noch halten können, gehen sie im Februar auf 32% zurück. Die Linke verliert im selben Zeitraum deutlich von 8% auf 5%, wobei die Verluste im Westen besonders drastisch ausfallen; die Grünen schwächen sich nur wenig auf 9% ab. Die FDP geht von 8% auf 6% zurück und die AfD sehr deutlich von 10% auf 6%. Bei dieser Frage gibt es immer auch die Antwort, man wisse nicht welche Partei man wählen wolle und die Angabe nicht wählen zu wollen. Beides kann man als nicht wählen wollen zusammenfassen. Anfang Januar gaben 23% diese Antwort, im Februar noch knapp 20%.
Medienhype unzuverlässig
Hier liegt nun nahe zu fragen wieso diese starken Veränderungen so schnell geschehen konnten und wie persistent sie sind.
Ganz offensichtlich gab es in der SPD-nahen Wählerschaft den starken Wunsch nach einem anderen Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden als Sigmar Gabriel. Martin Schulz und seine durch kein Regierungsamt gebremste Rhetorik unbekümmerter Versprechungen entsprechen diesen Erwartungen. Da große Teile der Wählerschaft inzwischen volatil sind, können solche Wechsel auch schnell geschehen. Schulz‘ Versprechen, Teile der Agenda 2010 zu revidieren, zielt ja genau auf die ehemaligen Sozialdemokraten, die aus Enttäuschung über die Agenda zum westlichen Teil der Partei Die Linke wurden.
Ohne starke mediale Unterstützung wären diese Veränderungen aber nicht möglich gewesen. Die Informationen über die inhaltlichen Veränderungen als Folge der personellen Wechsel müssen ja den Wählern vermittelt werden. Und solche gravierenden Veränderungen wie die, die bei der SPD stattfanden, können nur erfolgreich sein, wenn die mediale Begleitung zustimmend und wohlwollend ausfällt – was zweifellos der Fall ist. Mit den Bevölkerungsumfragen kann dann gemessen werden, wie erfolgreich die Veränderungen bei den Wählern angekommen sind. Die Veröffentlichung der so gemessenen positiven Reaktionen führt zu einem sich einige Zeit selbst ernährenden Medienhype. Wie lange ein solcher Hype anhält, ist im Vorhinein nicht zu bestimmen. Er könnte, auf Grund der großen Wechselbereitschaft genauso schnell beendet sein, wie er begonnen hat, vorausgesetzt die politischen Gegner finden die richtigen Antworten.