„Das Problem ist im Kanzleramt. Wir verlieren grad massiv Ansehen bei all unseren Nachbarn.“ In Gesprächen mit anderen europäischen Parlamentariern werde aktuell überall die Frage gestellt: „Wo bleibt eigentlich Deutschland?“
Setzte da bei RTL direkt gerade Oppositionsführer Friedrich Merz zur Generalabrechnung mit Olaf Scholz an? Was jedenfalls so klang, stammte allerdings von einem führenden Politiker der Ampel-Koalition – dem früheren grünen Fraktionschef und jetzigen Vorsitzenden des EU-Ausschusses Anton Hofreiter. Der war gerade zurück von einer Reise nach Kiew, die er zusammen mit dem Chef des Auswärtigen Ausschusses Michael Roth von der SPD und der FDP-Verteidigungspolitikern Marie-Agnes Strack-Zimmermann unternommen hatte. Die drei Ampel-Politiker sondierten dort die Lage und hörten vor allem den in drängendem Ton vorgetragenen Wunsch der ukrainischen Seite nach schweren Waffen aus Deutschland für die bedrängten Truppen in der Ost-Ukraine.
Während die Grünen, die sich noch vor kurzem strikt gegen die Lieferung von Kriegsgerät in Konfliktgebiete aussprachen, genau diese Waffen jetzt liefern wollen – auch die geforderten Panzer – bremst Kanzler Olaf Scholz ganz offenkundig. Der Regierungschef erklärte außerdem, er werde erst einmal nicht nach Kiew reisen, anders als sein britischer Kollege Boris Johnson. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trat seine Reise nach Kiew ebenfalls nicht an. Weil er ausgeladen wurde, so Steinmeier. Weil er gar keinen Besuch angemeldet habe, ließ die Regierung in Kiew wissen.
Ein derart offener Riss zwischen Koalitionspartnern zeigt sich sonst eher in der Schlussphase eines Regierungsbündnisses. Dass ein Koalitionsvertreter schon im ersten halben Jahr einer gemeinsamen Regierung den Kanzler derart frontal angreift, spricht für eine tiefe Zerrüttung entlang einer deutlich erkennbaren Bruchlinie: hier die Grünen und FDP – dort Scholz mit seiner SPD, die eine Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine mit immer neuen Argumenten ablehnt. Scholz, so Hofreiter, spreche von „Zeitenwende, aber er setzt sie nicht ausreichend um und da braucht es deutlich mehr Führung“.
Jeder in Berlin versteht das als Anspielung auf Scholz‘ Satz: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt Führung.“ In der Waffenfrage treiben die beiden kleinen Koalitionspartner den Kanzler eher vor sich her. Und schon bei dem Versuch, eine Impfpflicht durchzusetzen – aber nicht mit einer Regierungsvorlage, sondern irgendwie fraktionsübergreifend, weil ohne eigene Mehrheit – war Scholz kürzlich blamabel gescheitert. Um einen Ersatz von russischem Gas durch Flüssiggas aus Katar kümmerte sich Wirtschaftsminister Robert Habeck – bisher mit sehr mäßigem Erfolg. Von Bemühungen des Kanzlers war auf diesem Gebiet allerdings gar nichts zu entdecken. Dazu kommt: nach dem Rückzug der grünen Urlaubs-Ministerin Anne Spiegel bleiben noch drei dringend ablösungsreife Kabinettsmitglieder:
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, die nicht in das Amt findet, Innenministerin Nancy Faeser, die das Sicherheitsressort für eine Kampfstelle gegen rechts hält – und der dauererratische Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Alle gehören zur Kanzlerpartei. Scholz kann sich nicht aufraffen, die Politiker auszuwechseln. Möglicherweise fehlt ihm auch der Ersatz.
In Berlin kursieren mehrere Versionen dafür, warum sich die SPD so hartnäckig weigert, der Ukraine wenigstens ältere Leopard-Panzer und Marder-Schützenpanzer zu geben. Eine lautet: die alte, eher zu Russland und zu einem naiven Pazifismus neigende Truppe um Fraktionschef Rolf Mützenich glaubt, nur ein russischer Sieg in der Ost-Ukraine wäre gesichtswahrend für Putin. Er soll also indirekt durch die Berliner Zurückhaltung ermöglicht werden.
Hofreiters Wutausbruch könnte auch dadurch beflügelt worden sein, dass er nicht Spiegels Nachfolger wurde, obwohl er angeblich das Versprechen der Grünen besaß, auf die erste freiwerdende Stelle im Kabinett nachrücken zu dürfen. Das könnte ihm bei RTL die Zunge gelöst haben. Der Grund für den tiefen Riss zwischen den Partnern liegt aber ganz offensichtlich woanders – in der Praxis von Scholz, als abwesender Kanzler zu regieren, nach dem Motto: die erste Rücksicht gilt der Partei.