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Cancel Culture

Kanzler Olaf Scholz flieht vor freizügigerem Twitter

Kanzler Olaf Scholz (SPD) denkt darüber nach, Twitter wegen "immer größerer Blüten" zu verlassen. Wie so oft bei Sozialdemokraten: eine großspurige Geste. Ohne deren Folgen zu Ende gedacht zu haben.

IMAGO / Jens Schicke

Ein Politiker hält sich in der Debatte um Twitter auffällig zurück. Es ist Karl Lauterbach (SPD). Über ihn wird gerne geschrieben, dass er seinen Aufstieg zum Gesundheitsminister seinen Auftritten in Talkshows wie Lanz verdankt. Das stimmt – ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn um in diese Talkshows während der Pandemie zu kommen, hat er Twitter gebraucht. Der Kurznachrichtendienst hat ihm zuerst dazu verholfen, die Stimme der Panikmacher zu werden. Davor war er ein hochbegabter Hinterbänkler, der wegen seines markanten Sozialverhaltens an der Seitenlinie gehalten wurde.

Eine Million und 70.000 Follower hat Karl Lauterbach auf Twitter. So viel wie kein anderer deutscher Politiker. Saskia Esken kommt auf 106.000 Follower – 960.000 Follower weniger, als der Mann, den sie in der Direktwahl um den SPD-Vorsitz klar geschlagen hat. Esken gehörte zu den ersten, die demonstrativ erklärt haben, sie würden Twitter jetzt verlassen, da der neue Besitzer Elon Musk dem Bösen Tür und Tor öffne. Wobei die Nazikeule grundsätzlich Eskens bevorzugte politische Waffe ist.

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Eskens Account ist immer noch da. Sie oder ihr Team haben ihn seit dem demonstrativen Auszug gepflegt. Sie haben alle Accounts, auch befreundete, entfolgt. Eine Geste von einer so weltbewegenden Symbolik wie die One-Love-Binde. Nutzer, die sich kritisch zu Esken geäußert haben, sind eingeschränkt. Der Autor dieser Zeilen bekommt mit seinem Hauptaccount lediglich noch den Hinweis angezeigt: „Diese Tweets sind geschützt.“ Sein auf links getrimmter Fake-Account folgt Esken und kann ihre Seite daher immer noch einsehen: Offenbar hat sie oder ihr Team alle alten Beiträge gelöscht. Zu sehen waren am Samstag nur noch ältere Retweets von Beiträgen anderer Nutzer.

Olaf Scholz will Twitter nun auch verlassen. Zumindest hat sein Regierungssprecher Steffen Hebestreit einen Fuß in den Pool gehalten und gegenüber wohlgesinnten Journalisten einen möglichen digitalen Exodus des Kanzlers angedeutet. Der Kommunikationsexperte orakelte von „problematischen Entwicklungen“ auf Twitter, die „immer größere Blüten treiben“ würden. Was er damit genau meint, lässt der Regierungssprecher offen.

Nun hat Elon Musk bereits zweimal renommierte, amerikanische Journalisten zu Wort kommen lassen. Sie veröffentlichten auf Twitter Recherchen über Twitter. In ihrer Arbeit hatte Musk den Journalisten geholfen, ihnen interne Dokumente überlassen und seinen Mitarbeitern grünes Licht gegeben, mit den Journalisten zu sprechen. Keine Selbstverständlichkeit. In deutschen Behörden gibt es strikte Anweisungen, dass sich die Mitarbeiter nicht gegenüber Medien über ihre Arbeit äußern dürfen. Das Ergebnis der Recherchen lautete: Twitter hat bisher unliebsame, meist rechte, Berichte und Meinungen unterdrückt und so in öffentliche Debatten – ja sogar in den US-Wahlkampf – eingegriffen. Sind diese Geständnisse die „immer größeren Blüten“, vor denen Scholz nun auf Twitter flieht?

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Oder ist es die Absicht von Musk, wieder freiere Rede zuzulassen? Twitter zu einem Marktplatz für einen fairen Ideenaustausch machen zu wollen? Flieht Scholz vor diesem offenen Ideenaustausch? Konservative Autoren berichten, dass sie seit den Twitter-Veröffentlichungen plötzlich an Followern gewinnen. Nach jahrelanger Stagnation finden Menschen zu ihnen. Ein Indiz dafür, dass der „Shadow Ban“ aufgehoben oder eingeschränkt worden ist, von dem die amerikanischen Journalisten nach ihren Recherchen berichtet haben. Die Kommunikation in den Netzwerken ist keine Einbahnstraße mehr, in die Linke Inhalte einspeisen und andere diesen folgen sollen. Sind das die Blüten, vor denen der Kanzler flieht?

Scholz sieht wie die meisten Linken das Volk nicht als eine Menge von erwachsenen Individuen, denen der Staat Möglichkeiten schaffen und sie ansonsten in Ruhe lassen soll. Sondern als eine Menge von schutzbedürftigen Kindern, die der Staat führen muss. Wenn er es für angemessen hält, erklärt Scholz den Kleinen mit „Bazooka“ und „Doppelwumms“ seine Politik dann auch mal so, dass sie es verstehen. Aber eigentlich bevorzugt er eine Kommunikation, bei der er redet, keiner widerspricht und Hofschranzen an der richtigen Stelle vorklatschen, sodass die Menge weiß, wann sie mit zu klatschen hat. ARD, ZDF und wohlgesinnte Print-Autoren von RND oder Süddeutsche Zeitung kommen dieser Vorstellung schon recht nahe.

Nur: Die Zukunft gehört nicht dem Fernsehen. Zumindest nicht dem analogen. Das betont in seinen Erfolgsbilanzen immer häufiger die Quoten – weil die totalen Zahlen rückläufig sind. Schon gar nicht gehört die Zukunft der gedruckten Zeitung. Die Verlage verlieren an Auflagen – obwohl sie die digitalen Abos in ihre Zahlen einrechnen. Die Zukunft gehört dem Internet. Deswegen denkt Hebestreit laut über Alternativen im Netz nach, hält Mastodon für eine solche – scheint aber auch noch nicht so wirklich davon überzeugt zu sein. Den chinesischen Anbieter TikTok schließt Hebestreit indes aus, sodass der Welt schon mal die Bilder erspart bleiben, wie Scholz den Doppelwumms tanzt.

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Doch die schwierige Suche nach Alternativen führt zu dem anderen Grund, warum Linke derzeit Twitter verlassen. Der eine Grund ist die Angst vor anderen Meinungen, die aus der Sicht von Vertreterinnen wie Innenministerin Nancy Faeser (SPD)  schon ab der Mitte offen für Rechtsextremismus sind.  Der andere Grund ist, dass Linke Dinge nicht zu Ende denken. Sie setzen ein Zeichen, in der Hoffnung, dass dieses schon die Welt verändert – und in der fehlenden Einsicht, dass selbst auf das stärkste Zeichen irgendwann eine Tat folgen muss.

Die SPD-Chefin Esken hat mit ihrem Auftritt gleich nach der Übernahme durch Musk den Ton gesetzt. Nun müssen irgendwann andere einstimmen – sonst wird es peinlich. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat jetzt erklärt, Twitter verlassen zu wollen und die Accounts des Landes gleich mitzunehmen. Ein sinnvoller, weiterer Test. Denn Weil ist so blass, dass sein Weggang nicht mal für den überzeugtesten Sozialdemokraten ein Verlust ist. Der niedersächsische Ministerpräsident fällt nur auf, wenn er an einer offenen Tür vorbei geht, die sich in einer grauen Wand befindet – den Rest des Weges bleibt er unsichtbar.

Weil scheint seinen Account tatsächlich gelöscht oder zumindest stillgestellt zu haben. Esken ist noch da – als Schattenwesen. Scholz ist mit seinen knapp 660.000 Followern ebenfalls noch da und aktiv: Erst am Freitag bedankte er sich bei Soldaten und Polizisten im Auslandseinsatz. Karl Lauterbach, mit 410.000 Followern mehr als der Kanzler ist so rege wie eh und je. Twitter hat er verstanden. Kritik perlt an dem Gesundheitsökonomen aus Leverkusen stets ab. Er setzt stoisch seine Botschaften und weiß, dass diese eine Million Menschen direkt erreichen können. Wobei nicht jeder Tweet alle Follower erreicht. Aber andererseits kommen manche Beiträge auf eine Zahl von Abrufen, die weit über die Zahl der Follower hinausgeht. So kann ein Account mit 2500 Followern auch mal Tweets absetzen, die von 100.000 anderen Accounts gesehen werden.

Eine Million Menschen kann Karl Lauterbach direkt erreichen. Auf diese Auflage kommt mit Müh und Not noch die Bild-Zeitung. Wobei Lese-Auswertungen zeigen, dass ein Text schon als sehr erfolgreich gilt, wenn ihn die Hälfte der Leser einer Zeitung tatsächlich durchgelesen haben. Eine Million Menschen erreicht Lauterbach mit einem Tweet potenziell, in Einzelfällen könnten es auch zwei oder drei Millionen sein. Drei Millionen Menschen ansprechen, ohne sie vorher mit einem Ski-Marathon und Rosamunde Pilcher einlullen zu müssen, sodass sie auch noch die Nachrichten über sich ergehen lassen.

Ungefiltert eine Million Menschen ansprechen, ohne darauf hoffen zu müssen, dass der ehemalige Politikstudent die Zitate korrekt wiedergibt und den Namen richtig schreibt. Ohne millionenschwere staatliche Anzeigenkampagnen starten zu müssen, damit regierungsnahe Journalisten selbst ohne Leser noch gut leben können. Lauterbach hat diese Medienmacht Twitters verstanden. Deswegen schweigt er zu Musk weitgehend und deutet seinen Rückzug nicht einmal an. Weil eigentlich jeder weiß, dass man irgendwann auch gehen muss, wenn man das allzu laut angekündigt hat. Jeder außer Saskia Esken.

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