Was ist denn in dieser Publikumsrunde schiefgelaufen? Sonst ist es der Zuschauer gewohnt, dass ein Politiker, wenn er sich den Bürgerfragen stellt, so gut wie nie die Fragen gestellt bekommt, die man gerne hören würden. Handzahm darf das Bürgerlein seine Sätze vortragen, damit der Kanzler oder Minister eloquent brillieren kann. In manchen besonderen Fällen sind es gleich auch Politiker anderer Parteien.
Nicht so in Mannheim. Zwei Minuten darf dort ein Herr im roten Pullover den Kanzler fragen. Oder besser: grillen. Selten hat es ein Talkshow-Moderator oder Pressekonferenz-Journalist geschafft, eine Bundesregierung nicht nur als Totalausfall darzustellen, sondern den Bundeskanzler mit larmoyanter Feststellung über die Klippe der Selbstzufriedenheit zu stürzen.
Ganz unwutbürgerlich spricht er den Bundeskanzler an, dass er sich Sorgen mache, weil er im Cum-Ex-Ausschuss „sehr vergesslich“ sei. Im Ausland werde das schon kommentiert, man habe einen Kanzler der Vergesslichkeit. Aber wie sehr könne man sich bei Scholz darauf verlassen, dass er möglicherweise „doch nicht so vergesslich“ sei – und damit unausgesprochen viel tiefer im Cum-Ex-Sumpf steckt, als er es selbst zugeben möchte? Wäre es da nicht besser, wenn der Kanzler diese „Last“ von sich würfe, Klarheit schaffe, und damit sich und seiner Partei helfe?
Bereits nach dieser ersten Frage gibt es Applaus. Eine junge Dame, die hinten links von dem älteren Herrn sitzt, ist über diese Chuzpe sichtlich amüsiert. In den USA gibt es den Roast, das heißt eine Veranstaltung, bei der ein Ehrengast mit mal mehr oder minder bissigem Spott fertiggemacht wird. Dazu tritt nicht selten eine ganze Reihe von Prominenten auf. Bei Scholz braucht es einen anonymen Herrn im roten Pullover, der ihn genüsslich über dem Feuer brät. Dabei braucht er kein Brennmaterial: Die Inkompetenz der Ampelregierung bietet genügend Brennstoff.
Scholz ist bereits beim ersten Teil genervt. Durch den Applaus spricht er durchs Mikro: „Zweite Frage?“ Doch jetzt erst läuft der neue Publikumsliebling zur Höchstform auf – und bleibt immer noch entwaffnend ruhig. Mit einem rhetorischen Kniff beginnt er: Selbst die Komödianten meinten ja, Deutschland habe die „dümmste Regierung der Welt“. Er glaube das natürlich nicht – nur, um dann umso deutlicher auszuholen: Im Kabinett gebe es so viele Mitglieder, die nichts könnten. Habeck wüsste nicht, was ein Konkurs sei, Baerbock redet von 360-Grad-Wenden und Ländern, die hunderttausende Kilometer entfernt seien. Gnädig erspart er dem Kanzler jeden Hinweis auf Lauterbach oder Faeser.
Dann stellt er die Frage, die so ziemlich jedem Bundesbürger unter den Nägeln brennt: Hat der Kanzler eigentlich keinen Einfluss darauf? Wenn ja, dann müsste er die Minister rauswerfen oder wenigstens Nachhilfeunterricht geben. Von der praktischen Arbeit, so gibt er dem Kanzler zuletzt eine mit, habe dort sowieso keiner eine Ahnung – das sehe man daran, wie die Gesetze formuliert seien. Was hat der Kanzler vor zu tun? Man müsse doch was tun. Rücktritt, Rauswurf – irgendetwas, damit man im Ausland nicht als dummer Deutscher dasteht.
Das sitzt. Und man will hinzufügen: Wohl kaum hat irgendein Mensch gegenüber einer deutschen Bundesregierung seine Zeit so kunstvoll genutzt, um diese nach allen Regeln der Kunst auseinanderzunehmen. Kein Stammeln, kein Überlegen, keine Abschwächung. Deutschland hat jeden Abend eine andere Talk-Sendung, bei der sich Politiker inszenieren dürfen, doch keine einzige einen solchen Moment.
Olaf Scholz pariert. Also, er versucht es. Er weicht den Fragen aus, indem er sie zielgerichtet nicht beantwortet. Unter anderem sagt er, dass sich seine Minister immer „sehr bemüht“ zeigten. Haben sich also Habeck und Baerbock „stets bemüht“? Vielleicht sind sich ja der Kanzler und der Herr aus dem Publikum mit ihren Ansichten doch viel näher, als man meint. Womöglich spricht der mutmaßliche Rentner sogar Scholz aus ganzer Seele. Wie ist sonst zu erklären, dass man keinen Hinweis auf diese Blamage beim Bundeskanzleramt findet? Wer schweigt, stimmt bekanntlich zu.