Tichys Einblick
TE-Interview

Sandra Kostner: Antirassisten schaden Afroamerikanern

Die Migrationsforscherin Sandra Kostner kritisiert die „Black Lives Matter“-Bewegung, weil sie Menschen auf ihre Hautfarbe reduziert, den sozialen Frieden gefährdet, die liberale Verfasstheit der US-Gesellschaft bedroht und den Afroamerikanern mehr Schaden als Nutzen bringt.

imago Images

Tichys Einblick: In Ihrem Buch über die identitätslinke Läuterungsagenda sprechen Sie von einem Prozess der Politisierung von Identitäten entlang von Opfer-Täter-Kategorisierungen. Was ist damit genau gemeint?

Sandra Kostner: Die Politisierung von Opfer- und Schuldidentitäten hat ihren Ausgangspunkt in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. Bürgerrechtler wie Martin Luther King kämpften dafür, dass alle Amerikaner unabhängig von ihrer Hautfarbe die gleichen Rechte bekommen. Um Afroamerikaner für den gemeinsamen Kampf für gleiche Rechte zu mobilisieren, mussten die Bürgerrechtler sie natürlich als Gruppe ansprechen. Daraus entstand ein gestärktes Gruppenbewusstsein, aber noch keine Opferidentität. Diese wurde erst ab den 1970er-Jahren von Bürgerrechtlern wie Jesse Jackson oder später Al Sharpton vorangetrieben. Sie realisierten, dass sich das Gruppenbewusstsein nutzten lässt, um aus den Schuldgefühlen weißer Amerikaner politisches Kapital zu schlagen.

Eine solche Möglichkeit zu erkennen ist das eine, sie politisch zu nutzen
das andere. Wie wurde dies möglich?

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Das wurde ab den späten 1960ern möglich, weil es zu diesem Zeitpunkt eine hinreichend große Gruppe an Weißen gab, die ein ausgeprägtes Schuldbewusstsein für das den Schwarzen angetane Unrecht ausgebildet hatte. Der von King an die afroamerikanische Community gerichtete Aufruf, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, galt nun als verpönt. Zum Leitspruch dieser Bürgerrechtler wurde, dass Schwarze sozial und ökonomisch nicht vorankommen können, solange die Weißen ihren Rassismus nicht überwunden haben. Dass es innerhalb der afroamerikanischen Community Einstellungen und Handlungsweisen gibt, die aufstiegshemmend wirken, wurde bewusst ausgeblendet, und diejenigen, die darauf hinweisen, versucht man mundtot zu machen. Selbst Barack Obama wurde, wann immer er Afroamerikaner für ihre Lage in die Pflicht nehmen wollte, als Verräter bezeichnet.

Welches politische Kapital lässt sich ausgerechnet aus einer Gruppenidentität der Nachkommen schwarzer Sklaven schlagen?

Mit dem 1964 verabschiedeten Civil Rights Act gestanden die weißen Amerikaner ein, dass sie die Grundsätze der Verfassung gegenüber den schwarzen Amerikanern massiv verletzt hatten. Dieses Schuldeingeständnis bedeutete auch, dass das weiße Amerika jegliche moralische Autorität gegenüber Afroamerikanern verlor. Weiße Amerikaner wurden zunehmend unsicherer, wie sie auf Forderungen reagieren sollten, wenn sie diese inhaltlich nicht teilten, zum Beispiel im Hinblick auf Instrumente wie Affirmative Action, mit denen Bevorzugungsmöglichkeiten für Afroamerikaner geschaffen wurden.

Verunsicherte Weiße auf der einen und fordernde Schwarze auf der anderen Seite. Reichte dies, um aus dem Civil Rights Act jenes Kapital zu schlagen, über das die „Black Lives Matter“-Bewegung heute in den USA verfügt?

Noch wichtiger dafür, dass sich politisches Kapital aus einer spezifischen Opferidentität schlagen ließ, war, dass sich unter den Weißen eine Gruppe von Läuterungsentrepreneuren herausbildete. Das sind Menschen, die unter dem moralischen Autoritätsverlust leiden. Sie denken, dass die moralische Integrität der Weißen nur wiederherstellbar ist, wenn sie fortwährend bekunden, dass sie in keiner Weise mehr rassistisch denken und handeln. Fatal ist, dass sie jeden Unterschied, der sich zwischen schwarzen und weißen Amerikanern beim Bildungserwerb, beim Einkommen und so weiter auftut, einzig und allein dem Rassismus der Weißen zuschreiben. Fatal deshalb, weil sie den Afroamerikanern damit Handlungsfähigkeit absprechen. Sie sind so fixiert auf ihre Selbstinszenierung als moralisch Geläuterte, dass sie komplett übersehen, wie rassistisch sie denken.

Ein ebenso ungewöhnlicher wie heftiger Vorwurf. Bitte konkretisieren Sie.

Nehmen wir das Thema Bildung: Die früheren Rassisten behaupteten, Schwarze seien intellektuell nicht in der Lage zu höherer Bildung. Die sich selbst als Antirassisten verstehenden neuen Rassisten – sozusagen die Läuterungsrassisten – behaupten, nur die Weißen könnten dafür sorgen, dass Schwarze erfolgreich sind. Sie denken ernsthaft, dass Afroamerikaner nur deshalb beim Bildungserwerb weniger erfolgreich sind, weil das Bildungssystem Weiße automatisch bevorzuge und Schwarze benachteilige.

Wie wirkt diese Botschaft auf die schwarze Community?

Wer Menschen sagt: „Ihr könnt nicht vorankommen, solange die anderen das System nicht verändern“, der entmutigt sie, sich überhaupt anzustrengen. Denn letztlich sagt man ihnen: „Egal wie sehr ihr euch anstrengt, ihr könnt nicht erfolgreich sein.“ Damit wird die Eigeninitiative gelähmt, und das ist fatal, denn Aufstieg durch Bildung funktioniert nicht ohne Eigeninitiative. Wichtig ist auch, dass über erbrachte Leistung das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt wird. Wer denkt, dass Leistung in seinem Fall ohnehin keinen Unterschied macht, bringt sich selbst um die Chance, dieses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, und erschwert so seinen sozialen Aufstieg.

Das heißt, Afroamerikaner verlieren, wenn sie diese Botschaft glauben?

In den unteren sozialen Schichten ist das so. Es gibt aber auch eine zweite Grup­pe innerhalb der afroamerikanischen Community, die überaus empfänglich für diese Botschaft ist und die nicht als Verlierer vom Feld geht. Dabei handelt es sich um Afroamerikaner aus der oberen Mittelschicht. Sie wissen aufgrund ihrer eigenen sozialen Lage, dass der Inhalt der Botschaft nicht zutrifft. Sie nutzen die Botschaft vielmehr, um Weiße unter Druck zu setzen und Bevorzugungsoptionen auszubauen. Ganz fatal ist, dass dieser Teil der Afroamerikaner gar kein Interesse daran hat, dass sozial schwache Afroamerikaner aufsteigen. Bevorzugungsoptionen sind nur so lange zu rechtfertigen, wie es große soziale Unterschiede gibt. Dieses eigennützige Denken ist rational für diese Gruppe privilegierter Afroamerikaner, bedeutet aber letztendlich, dass sie keinen Anreiz haben, weniger privilegierten Afroamerikanern beim Aufstieg zu helfen.

Es machen demnach nicht alle Afro­amerikaner weiße Amerikaner für ihre Lage verantwortlich?

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Das tun bei Weitem nicht alle. Dass man den Eindruck gewinnt, Afroamerikaner würden Weiße für all ihre Probleme ver­antwortlich machen, hat damit zu tun, dass afroamerikanische Aktivisten diese Botschaft massiv einbringen. Diese Aktivisten, die ich Opferentrepreneure nenne, weil ihre Geschäftsgrundlage darin besteht, Afroamerikaner als Opfer darzustellen, inszenieren sich überaus erfolgreich als Fürsprecher und erhalten aufgrund ihrer Redegewandtheit und ihrer zunehmend radikalen Forde­rungen sehr viel Aufmerksamkeit.

Wie groß sind eigentlich die Unter­schiede zwischen Weißen und Schwar­zen beim zentralen Faktor Bildung?

Es gibt nach wie vor Unterschiede, die erfreulicherweise in den letzten Jahren geringer wurden. Im Jahr 2012 lag der Unterschied bei Highschool-­Abschlüs­sen noch bei 18 Prozentpunkten, im Jahr 2018 nur noch bei zehn. Im Schul­jahr 2017/18 erwarben 79 Prozent der afroamerikanischen und 89 Prozent der weißen Schüler einen Highschool­-Ab­schluss. Bei den Bachelor­-Abschlüssen ist der Unterschied größer. Laut einer Untersuchung des Pew­-Forschungs­zentrums aus dem Jahr 2016 verfügten rund 36 Prozent aller über 25­jährigen Weißen über einen Bachelor­Abschluss, aber nur 23 Prozent der Afroamerika­ner. Hier bleibt abzuwarten, ob mit dem Anstieg der Highschool­-Abschlüsse auch die Lücke kleiner wird.

Wie sah dies 1964, also im Jahr des Civil Rights Act, aus?

Damals lag der Anteil der Afroamerika­ner mit einem Highschool­-Abschluss bei gut einem Viertel, verglichen mit etwas über der Hälfte bei den Weißen. Gerade einmal vier Prozent der Afro­amerikaner hatten damals einen Ba­chelor­-Abschluss, verglichen mit zehn Prozent der weißen Amerikaner.

Spiegelt sich dieser Unterschied beim Erwerb höherer Bildungsabschlüsse auch im Haushalteinkommen wider?

Ja, denn aufgrund ihrer nach wie vor schlechteren Qualifikationen sind Afroamerikaner auch häufiger von Arbeits­losigkeit und prekären, schlecht be­zahlten Beschäftigungsverhältnissen betroffen. So ist beispielsweise seit Jahr­zehnten die Arbeitslosenquote von Afro­amerikanern doppelt so hoch wie die von Weißen. Zwar konnten Afroameri­kaner ihr Haushaltseinkommen in den letzten 50 Jahren um 57 Prozent stei­gern, die weißen Amerikaner aber um 63 Prozent. Selbst bei Afroamerikanern mit Bachelor­-Abschluss tut sich eine er­hebliche Einkommenslücke auf.

Sind höhere Arbeitslosenquote und Einkommenslücken nicht Hinweise, dass es die von den Aktivisten kritisier­ten rassistischen Strukturen gibt?

Die Sache ist weitaus komplizierter, als uns die Aktivisten glauben machen wollen. Rassismus spielt heutzutage allenfalls eine nachrangige Rolle. Die beiden entscheidenden Faktoren für die höhere Arbeitslosenquote sind die bis in die jüngere Zeit hohe Schulabbre­cherquote und die extrem hohe Rate an alleinerziehenden Müttern, die nicht selten schon als Teenager ihr erstes Kind bekommen. Wäre nun Rassismus die Ursache für die hohe Rate an Allein­erziehenden, dann hätte diese vor dem Civil Rights Act deutlich höher sein müssen als heute. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Afroamerikaner hatten bis Ende der 1960er sogar weitaus stabi­lere Familienverhältnisse als Weiße.

Und wie erklären Sie die Einkommens­unterschiede bei den Bachelors?

Diese Unterschiede haben viel damit zu tun, dass sich die Einkommenser­hebungen auf Haushalte beziehen. Und hier ist es so, dass weiße Haushal­te häufiger aus Ehepaaren bestehen, von denen zudem häufiger beide einen Hochschulabschluss haben und arbei­ten. Schwarze Haushalte zeichnen sich durch eine sehr hohe Zahl alleinerzie­hender Mütter aus – auch bei denen mit Hochschulabschluss. Wäre Rassismus ein wichtiger Faktor, müssten im Übrigen auch andere Nichtweiße davon betroffen sein. Gerade Asiaten liegen beim Erwerb von Hochschul­abschlüssen in den USA aber weit vor allen anderen Gruppen. Und sie erzie­len auch deutlich höhere Einkommen als Weiße.

Der Rassismusvorwurf wird ja auch dadurch fragwürdig, dass es inzwi­schen viele Afroamerikaner gibt, die in Wirtschaft und Politik erfolgreich und anerkannt sind. Laufen die Forderun­gen der Aktivisten nicht ins Leere?

Offenkundig verhält es sich anders. Und genau darüber müssen wir nach­denken. Wir müssen verstehen, welche Ziele die Aktivisten verfolgen, mit wel­chen Mitteln sie arbeiten und wie es ei­ner vergleichsweise kleinen Gruppe ge­lingen konnte, Politik und Gesellschaft in dem Ausmaß vor sich herzutreiben, wie wir es gegenwärtig erleben.

Woran machen Sie fest, dass sich Poli­tik und Gesellschaft scheuchen lassen?

Das mache ich daran fest, dass heut­zutage jeder, der den Forderungen der Aktivisten nicht Folge leistet oder gar Kritik übt, umgehend zur Bestrafung freigegeben wird. Mittlerweile ist im Umfeld der zur Bestrafung freigegebe­nen Person die Angst, selbst ins Visier der Aktivisten zu geraten, so groß, dass man die Angeprangerten wie eine heiße Kartoffel fallen lässt.

Können Sie das konkretisieren?

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Ja. Nur zwei Beispiele: Gordon Klein, ein Dozent an der University of Califor­nia in Los Angeles, kam der Forderung einer Studentin nicht nach, die nach der Tötung George Floyds für afro­amerikanische Studierende Prüfungserleichterungen wollte. Umgehend wur­de eine Unterschriftenaktion gestartet, die seine Entlassung forderte. Ebenso umgehend reagierte die Universität dar­auf mit der Beurlaubung Kleins. David Shor, ein junger Datenanalyst, tweetete die Ergebnisse einer von Omar Wasow, einem afroamerikanischen Politik­wissenschaftler in Princeton, durchge­führten Studie. Sie zeigt, dass in den 1960ern Bürgerrechtsproteste die Un­terstützung der Öffentlichkeit fanden, solange sie friedlich blieben. Da das Ergebnis nicht zur Agenda der BLM­-Ak­tivisten passt, brandmarkten sie Shors Tweet als rassistisch. Sie taten dies, weil sie wussten, dass dadurch ihre Forderung an Shors Arbeitgeber, ihn zu feuern, ihre Wirkung nicht verfehlen würde. Und sie lagen richtig.

Wie konnte es so weit kommen?

Ich denke, der Hauptgrund ist, dass man die allfälligen Warnzeichen über­sehen oder als universitären Spleen abgetan hat. Allzu selten wird ihnen an den Unis etwas entgegengesetzt. Ganz im Gegenteil: Leitungsebenen knicken ein, und ein Teil der Lehren­den unterstützt oder befeuert sogar die Forderungen studentischer Aktivisten. Insbesondere in den Fächern, in de­nen die Critical Race Theory und die Intersektionalitätstheorie eine wichti­ge Rolle spielen, steigt der Anteil jener Studierenden, die in den USA als Social Justice Warriors bezeichnet werden.

„Warriors“ sind auf Deutsch „Krieger“ und keine bloßen Aktivisten. Wie
kam es zu dieser immensen Radika­lisierung?

Die Radikalisierung ist aus meiner Sicht das Ergebnis dessen, dass diese Studierenden die reale Welt nach dem Inhalt der vorgenannten, in Teilen hochgra­dig ideologischen und unterkomplexen Theorien gestalten möchten. Dabei sto­ßen sie auf ein Problem: Rassismus hat in den letzten Jahrzehnten stark abge­nommen.

Welche Rolle spielt in diesem Zusam­menhang der Begriff des strukturellen Rassismus, der ja inzwischen auch in Deutschland gang und gäbe ist?

Struktureller Rassismus ist das wich­tigste Werkzeug der heutigen Antirassismusaktivisten. Man kann sagen, je weniger Rassisten es gibt, desto mehr rücken Aktivisten ihn in den Mittel­punkt. Sie behaupten, alle von Weißen nach ihren Bedürfnissen geschaffenen Strukturen wirkten sich nachteilig auf alle Nichtweißen aus.

Wie kann der von Ihnen beschriebenen Entwicklung Einhalt geboten werden?

Wir dürfen uns diesem Furor nicht beugen. Es handelt sich inzwischen nicht mehr nur um eine Spielerei von wenigen, radikalisierten Akademikern, sondern um eine Bewegung, die nicht nur in den USA zunehmend die Ge­sellschaft als Ganzes, allen voran die Medien, erfasst. Vor allem müsste die parteipolitische Hyperpolarisierung aufgegeben werden, sodass liberale und konservative Kräfte, denen Menschenrechte, Liberalismus, Demokratie und Rechtsstaat am Herzen liegen, wieder zusammenkommen können, um diese Werte gemeinsam zu verteidigen.


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