Tichys Einblick: In Ihrem Buch über die identitätslinke Läuterungsagenda sprechen Sie von einem Prozess der Politisierung von Identitäten entlang von Opfer-Täter-Kategorisierungen. Was ist damit genau gemeint?
Sandra Kostner: Die Politisierung von Opfer- und Schuldidentitäten hat ihren Ausgangspunkt in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. Bürgerrechtler wie Martin Luther King kämpften dafür, dass alle Amerikaner unabhängig von ihrer Hautfarbe die gleichen Rechte bekommen. Um Afroamerikaner für den gemeinsamen Kampf für gleiche Rechte zu mobilisieren, mussten die Bürgerrechtler sie natürlich als Gruppe ansprechen. Daraus entstand ein gestärktes Gruppenbewusstsein, aber noch keine Opferidentität. Diese wurde erst ab den 1970er-Jahren von Bürgerrechtlern wie Jesse Jackson oder später Al Sharpton vorangetrieben. Sie realisierten, dass sich das Gruppenbewusstsein nutzten lässt, um aus den Schuldgefühlen weißer Amerikaner politisches Kapital zu schlagen.
Eine solche Möglichkeit zu erkennen ist das eine, sie politisch zu nutzen
das andere. Wie wurde dies möglich?
Welches politische Kapital lässt sich ausgerechnet aus einer Gruppenidentität der Nachkommen schwarzer Sklaven schlagen?
Mit dem 1964 verabschiedeten Civil Rights Act gestanden die weißen Amerikaner ein, dass sie die Grundsätze der Verfassung gegenüber den schwarzen Amerikanern massiv verletzt hatten. Dieses Schuldeingeständnis bedeutete auch, dass das weiße Amerika jegliche moralische Autorität gegenüber Afroamerikanern verlor. Weiße Amerikaner wurden zunehmend unsicherer, wie sie auf Forderungen reagieren sollten, wenn sie diese inhaltlich nicht teilten, zum Beispiel im Hinblick auf Instrumente wie Affirmative Action, mit denen Bevorzugungsmöglichkeiten für Afroamerikaner geschaffen wurden.
Verunsicherte Weiße auf der einen und fordernde Schwarze auf der anderen Seite. Reichte dies, um aus dem Civil Rights Act jenes Kapital zu schlagen, über das die „Black Lives Matter“-Bewegung heute in den USA verfügt?
Noch wichtiger dafür, dass sich politisches Kapital aus einer spezifischen Opferidentität schlagen ließ, war, dass sich unter den Weißen eine Gruppe von Läuterungsentrepreneuren herausbildete. Das sind Menschen, die unter dem moralischen Autoritätsverlust leiden. Sie denken, dass die moralische Integrität der Weißen nur wiederherstellbar ist, wenn sie fortwährend bekunden, dass sie in keiner Weise mehr rassistisch denken und handeln. Fatal ist, dass sie jeden Unterschied, der sich zwischen schwarzen und weißen Amerikanern beim Bildungserwerb, beim Einkommen und so weiter auftut, einzig und allein dem Rassismus der Weißen zuschreiben. Fatal deshalb, weil sie den Afroamerikanern damit Handlungsfähigkeit absprechen. Sie sind so fixiert auf ihre Selbstinszenierung als moralisch Geläuterte, dass sie komplett übersehen, wie rassistisch sie denken.
Ein ebenso ungewöhnlicher wie heftiger Vorwurf. Bitte konkretisieren Sie.
Nehmen wir das Thema Bildung: Die früheren Rassisten behaupteten, Schwarze seien intellektuell nicht in der Lage zu höherer Bildung. Die sich selbst als Antirassisten verstehenden neuen Rassisten – sozusagen die Läuterungsrassisten – behaupten, nur die Weißen könnten dafür sorgen, dass Schwarze erfolgreich sind. Sie denken ernsthaft, dass Afroamerikaner nur deshalb beim Bildungserwerb weniger erfolgreich sind, weil das Bildungssystem Weiße automatisch bevorzuge und Schwarze benachteilige.
Wie wirkt diese Botschaft auf die schwarze Community?
Wer Menschen sagt: „Ihr könnt nicht vorankommen, solange die anderen das System nicht verändern“, der entmutigt sie, sich überhaupt anzustrengen. Denn letztlich sagt man ihnen: „Egal wie sehr ihr euch anstrengt, ihr könnt nicht erfolgreich sein.“ Damit wird die Eigeninitiative gelähmt, und das ist fatal, denn Aufstieg durch Bildung funktioniert nicht ohne Eigeninitiative. Wichtig ist auch, dass über erbrachte Leistung das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt wird. Wer denkt, dass Leistung in seinem Fall ohnehin keinen Unterschied macht, bringt sich selbst um die Chance, dieses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, und erschwert so seinen sozialen Aufstieg.
Das heißt, Afroamerikaner verlieren, wenn sie diese Botschaft glauben?
In den unteren sozialen Schichten ist das so. Es gibt aber auch eine zweite Gruppe innerhalb der afroamerikanischen Community, die überaus empfänglich für diese Botschaft ist und die nicht als Verlierer vom Feld geht. Dabei handelt es sich um Afroamerikaner aus der oberen Mittelschicht. Sie wissen aufgrund ihrer eigenen sozialen Lage, dass der Inhalt der Botschaft nicht zutrifft. Sie nutzen die Botschaft vielmehr, um Weiße unter Druck zu setzen und Bevorzugungsoptionen auszubauen. Ganz fatal ist, dass dieser Teil der Afroamerikaner gar kein Interesse daran hat, dass sozial schwache Afroamerikaner aufsteigen. Bevorzugungsoptionen sind nur so lange zu rechtfertigen, wie es große soziale Unterschiede gibt. Dieses eigennützige Denken ist rational für diese Gruppe privilegierter Afroamerikaner, bedeutet aber letztendlich, dass sie keinen Anreiz haben, weniger privilegierten Afroamerikanern beim Aufstieg zu helfen.
Es machen demnach nicht alle Afroamerikaner weiße Amerikaner für ihre Lage verantwortlich?
Wie groß sind eigentlich die Unterschiede zwischen Weißen und Schwarzen beim zentralen Faktor Bildung?
Es gibt nach wie vor Unterschiede, die erfreulicherweise in den letzten Jahren geringer wurden. Im Jahr 2012 lag der Unterschied bei Highschool-Abschlüssen noch bei 18 Prozentpunkten, im Jahr 2018 nur noch bei zehn. Im Schuljahr 2017/18 erwarben 79 Prozent der afroamerikanischen und 89 Prozent der weißen Schüler einen Highschool-Abschluss. Bei den Bachelor-Abschlüssen ist der Unterschied größer. Laut einer Untersuchung des Pew-Forschungszentrums aus dem Jahr 2016 verfügten rund 36 Prozent aller über 25jährigen Weißen über einen BachelorAbschluss, aber nur 23 Prozent der Afroamerikaner. Hier bleibt abzuwarten, ob mit dem Anstieg der Highschool-Abschlüsse auch die Lücke kleiner wird.
Wie sah dies 1964, also im Jahr des Civil Rights Act, aus?
Damals lag der Anteil der Afroamerikaner mit einem Highschool-Abschluss bei gut einem Viertel, verglichen mit etwas über der Hälfte bei den Weißen. Gerade einmal vier Prozent der Afroamerikaner hatten damals einen Bachelor-Abschluss, verglichen mit zehn Prozent der weißen Amerikaner.
Spiegelt sich dieser Unterschied beim Erwerb höherer Bildungsabschlüsse auch im Haushalteinkommen wider?
Ja, denn aufgrund ihrer nach wie vor schlechteren Qualifikationen sind Afroamerikaner auch häufiger von Arbeitslosigkeit und prekären, schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen betroffen. So ist beispielsweise seit Jahrzehnten die Arbeitslosenquote von Afroamerikanern doppelt so hoch wie die von Weißen. Zwar konnten Afroamerikaner ihr Haushaltseinkommen in den letzten 50 Jahren um 57 Prozent steigern, die weißen Amerikaner aber um 63 Prozent. Selbst bei Afroamerikanern mit Bachelor-Abschluss tut sich eine erhebliche Einkommenslücke auf.
Sind höhere Arbeitslosenquote und Einkommenslücken nicht Hinweise, dass es die von den Aktivisten kritisierten rassistischen Strukturen gibt?
Die Sache ist weitaus komplizierter, als uns die Aktivisten glauben machen wollen. Rassismus spielt heutzutage allenfalls eine nachrangige Rolle. Die beiden entscheidenden Faktoren für die höhere Arbeitslosenquote sind die bis in die jüngere Zeit hohe Schulabbrecherquote und die extrem hohe Rate an alleinerziehenden Müttern, die nicht selten schon als Teenager ihr erstes Kind bekommen. Wäre nun Rassismus die Ursache für die hohe Rate an Alleinerziehenden, dann hätte diese vor dem Civil Rights Act deutlich höher sein müssen als heute. Genau das Gegenteil ist aber der Fall. Afroamerikaner hatten bis Ende der 1960er sogar weitaus stabilere Familienverhältnisse als Weiße.
Und wie erklären Sie die Einkommensunterschiede bei den Bachelors?
Diese Unterschiede haben viel damit zu tun, dass sich die Einkommenserhebungen auf Haushalte beziehen. Und hier ist es so, dass weiße Haushalte häufiger aus Ehepaaren bestehen, von denen zudem häufiger beide einen Hochschulabschluss haben und arbeiten. Schwarze Haushalte zeichnen sich durch eine sehr hohe Zahl alleinerziehender Mütter aus – auch bei denen mit Hochschulabschluss. Wäre Rassismus ein wichtiger Faktor, müssten im Übrigen auch andere Nichtweiße davon betroffen sein. Gerade Asiaten liegen beim Erwerb von Hochschulabschlüssen in den USA aber weit vor allen anderen Gruppen. Und sie erzielen auch deutlich höhere Einkommen als Weiße.
Der Rassismusvorwurf wird ja auch dadurch fragwürdig, dass es inzwischen viele Afroamerikaner gibt, die in Wirtschaft und Politik erfolgreich und anerkannt sind. Laufen die Forderungen der Aktivisten nicht ins Leere?
Offenkundig verhält es sich anders. Und genau darüber müssen wir nachdenken. Wir müssen verstehen, welche Ziele die Aktivisten verfolgen, mit welchen Mitteln sie arbeiten und wie es einer vergleichsweise kleinen Gruppe gelingen konnte, Politik und Gesellschaft in dem Ausmaß vor sich herzutreiben, wie wir es gegenwärtig erleben.
Woran machen Sie fest, dass sich Politik und Gesellschaft scheuchen lassen?
Das mache ich daran fest, dass heutzutage jeder, der den Forderungen der Aktivisten nicht Folge leistet oder gar Kritik übt, umgehend zur Bestrafung freigegeben wird. Mittlerweile ist im Umfeld der zur Bestrafung freigegebenen Person die Angst, selbst ins Visier der Aktivisten zu geraten, so groß, dass man die Angeprangerten wie eine heiße Kartoffel fallen lässt.
Können Sie das konkretisieren?
Wie konnte es so weit kommen?
Ich denke, der Hauptgrund ist, dass man die allfälligen Warnzeichen übersehen oder als universitären Spleen abgetan hat. Allzu selten wird ihnen an den Unis etwas entgegengesetzt. Ganz im Gegenteil: Leitungsebenen knicken ein, und ein Teil der Lehrenden unterstützt oder befeuert sogar die Forderungen studentischer Aktivisten. Insbesondere in den Fächern, in denen die Critical Race Theory und die Intersektionalitätstheorie eine wichtige Rolle spielen, steigt der Anteil jener Studierenden, die in den USA als Social Justice Warriors bezeichnet werden.
„Warriors“ sind auf Deutsch „Krieger“ und keine bloßen Aktivisten. Wie
kam es zu dieser immensen Radikalisierung?
Die Radikalisierung ist aus meiner Sicht das Ergebnis dessen, dass diese Studierenden die reale Welt nach dem Inhalt der vorgenannten, in Teilen hochgradig ideologischen und unterkomplexen Theorien gestalten möchten. Dabei stoßen sie auf ein Problem: Rassismus hat in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Begriff des strukturellen Rassismus, der ja inzwischen auch in Deutschland gang und gäbe ist?
Struktureller Rassismus ist das wichtigste Werkzeug der heutigen Antirassismusaktivisten. Man kann sagen, je weniger Rassisten es gibt, desto mehr rücken Aktivisten ihn in den Mittelpunkt. Sie behaupten, alle von Weißen nach ihren Bedürfnissen geschaffenen Strukturen wirkten sich nachteilig auf alle Nichtweißen aus.
Wie kann der von Ihnen beschriebenen Entwicklung Einhalt geboten werden?
Wir dürfen uns diesem Furor nicht beugen. Es handelt sich inzwischen nicht mehr nur um eine Spielerei von wenigen, radikalisierten Akademikern, sondern um eine Bewegung, die nicht nur in den USA zunehmend die Gesellschaft als Ganzes, allen voran die Medien, erfasst. Vor allem müsste die parteipolitische Hyperpolarisierung aufgegeben werden, sodass liberale und konservative Kräfte, denen Menschenrechte, Liberalismus, Demokratie und Rechtsstaat am Herzen liegen, wieder zusammenkommen können, um diese Werte gemeinsam zu verteidigen.