Tichys Einblick
Der hundertste Tag des Ukraine-Krieges

Russland verfehlt seine Ziele – und ist dennoch erfolgreich

Die Ukraine will nach ihrem Chefunterhändler Dawyd Arachamija erst bei einer stärkeren Position im Krieg gegen Russland an den Verhandlungstisch zurückkehren. Den Donbass hat die Föderationsarmee erobert, aber unter schwersten Verlusten - ob Russland sich diese noch leisten kann (und will), ist mehr als fraglich.

Die Delegationen Russlands und der Ukraine am Verhandlungstisch im Dolmabahce-Palast in Istanbul, 29.3.2022

IMAGO / SNA

In der Ukraine setzt sich die Entwicklung der letzten Tage fort – und Russland behält aktuell die Oberhand. Unter heftigem Artilleriefeuer schließen russische Truppen den Ring um den Donbass. Der konstante Druck der Föderationsarmee macht sich bezahlt. Die letzte Großstadt des Donbass, Sjewjerodonezk, stand zeitweise zu 80% unter Kontrolle von Putins Truppen. Die Stadt ist die letzte Hochburg der ukrainischen Armee in der Region. Die ukrainischen Verteidiger verschanzen sich im Industriegebiet der Stadt, unter anderem im Keller eines Chemiewerkes.

Sjewjerodonezk und die Nachbarstadt Lysychansk droht die Einkesselung. Westlich der beiden Städte stoßen russische Truppen immer weiter vor, aufeinander zu: Der Abstand der beiden Flanken zueinander beträgt nur noch rund 20 Kilometer. Im Donbass macht Russland entscheidende Fortschritte – wie schon in den letzten Wochen langsam und mit hohen Verlusten, aber sicher und konstant. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte vorgestern Abend, die militärische Lage im Donbass habe sich in den vergangenen 24 Stunden insgesamt nicht verändert. Er nannte die Verteidigung der Ukrainer, insbesondere im schwer umkämpften Sjewjerodonezk, einen militärischen Erfolg. Laut eigenen Angaben drängen die Ukrainer die russischen Streitkräfte aktuell sogar etwas zurück.

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Journalisten vor Ort berichten, die ukrainischen Truppen seien mit einem starken Gegenstoß in die Stadt zurückgekehrt. Der Feind sei „um 20 Prozent zurückgedrängt worden“, sagt der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Gajdaj. Er beschreibt ein brutales Hin und Her. Kiew wirft Moskau vor, aus der letzten verblieben Bastion der Ukraine in Luhansk ein „zweites Mariupol“ zu machen. Der Einsatz von Artillerie ist massiv.

An anderen Frontabschnitten befinden sich Putins Truppen in der Defensive. Nördlich der russisch kontrollierten Großstadt Kherson sprengten die Besatzer Infrastruktur, um eine mögliche ukrainische Gegenoffensive zu erschweren. Das Verteidigungsministerium in Kiew spricht dort von „systematischen Gegenangriffen“. Das britische Verteidigungsministerium geht davon aus, dass Russland insgesamt schwere Verluste erleidet, in Kiew nennt man mittlerweile über 30.0000 Verluste auf russischer Seite.

Der gestrige Freitag war der 100. Kriegstag. Klar ist: Russland ist mit seinen ursprünglichen Kriegszielen, insbesondere dem Marsch auf Kiew, gescheitert. Der ukrainische Staat ist noch geordnet, funktional und wehrhaft. Doch von einer Niederlage Putins kann dennoch keine Rede sein. Nach 100 Tagen steht Russland kurz vor der Kontrolle des Donbass, der Regionen Luhansk und Donezk – und setzt die Ukraine noch immer stärker unter Druck, als so manche westliche Journalisten und Analysten geglaubt haben. Totgeglaubte leben länger, scheint auch hier zu gelten.

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Dass Russland weitere Gewinne erzielen kann, gilt im Moment als unwahrscheinlich. Zwar erklärte Putins Verteidigungsminister Sergej Shoigu erst gestern, dass Russland seine „Spezielle Militäroperation“ beschleunigen werde – aber den Russen scheinen dafür schlicht die Ressourcen zu fehlen. Dafür sprechen die Defensivpositionen, die russische Truppen entlang der gesamten Front eingenommen haben – Moskau konzentriert seine Truppen nach wie vor im Donbass, um die vollständige Eroberung des Gebietes zu erreichen.

Das britische Verteidigungsministerium geht davon aus, dass die Russen in den nächsten zwei Wochen das gesamte Gebiet Luhansk sichern werden – aber auch das unter schweren Verlusten. Für weitere Offensiven über den Donbass hinaus scheint die russische Armee aktuell nicht vorbereitet. Das deckt sich mit anekdotischen Berichten von der Front, auch von irregulären Truppen der pro-russischen Separatisten, die wegen schlechter Ausrüstung massiv mit Moralproblemen zu kämpfen haben.

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Auch wenn es Russland nicht gelungen ist, die Ukraine und ihren Staat zu zerschlagen – die wohl bevorstehende Kontrolle des Donbass ist zumindest ein Teilsieg für Russland. Immerhin war das von vielen russischsprachigen Menschen bevölkerte Gebiet und der angebliche „Genozid“, der dort verübt würde, offizieller Casus Belli. Der Kreml hat sich jedenfalls zufrieden mit dem Verlauf des Krieges gezeigt: Auf die Frage nach militärischen Fortschritten in der Ukraine sagte Putin-Sprecher Dmitri Peskow, die russischen Truppen hätten ihre Hauptaufgabe, den Schutz der Zivilbevölkerung im Osten der Ukraine, erfolgreich erfüllt. Die Arbeit werde fortgesetzt, bis alle Ziele der von Russland so bezeichneten militärischen Sonderoperation erreicht seien. Auch eine Landverbindung zur Halbinsel Krim ist hergestellt, was als strategisches Nebenziel des Einmarsches bewertet wurde.

Doch die Besatzung des eroberten Gebietes ist für die Russen aufwendiger als erwartet. Die angeblichen Befreier tun sich laut dem „Institute for the Study of the War“ schwer, in besetzten Gebieten eine „permanente gesellschaftliche Kontrolle“ aufzubauen. Die Denkfabrik erklärte in einem Bericht, die russischen Streitkräfte seien „nicht in der Lage, die lokale Bevölkerung zu kontrollieren, die Verwendung des russischen Rubels durchzusetzen oder bürokratische Prozesse durchzuführen“. Zu einer weiteren, größeren Offensive könnten so erst Recht die Mittel fehlen – auch, weil die Ukrainer ihre Feinde für jeden Kilometer einen hohen Blutzoll zahlen lassen. Dazu kommt, dass die Ukraine mit jedem Tag mehr Waffen aus dem Westen erhält.

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Der russische Fokus auf den Einsatz von Artillerie und Mehrfachraketenartillerie, sogenannten MRLS, wird zunehmend durch die Ukraine ausgekontert. Kiew jedenfalls sieht das Kriegsglück auf seiner Seite: So sehr, dass man Verhandlungen mit den Russen aktuell ablehnt. Die Ukraine wolle nach Worten ihres Chefunterhändlers erst bei einer stärkeren Position im Krieg gegen Russland an den Verhandlungstisch zurückkehren. „Die Verhandlungen sollen fortgesetzt werden, wenn unsere Verhandlungsposition gestärkt ist“, sagte der Fraktionsvorsitzende der Präsidentenpartei Diener des Volkes, Dawyd Arachamija, der die Verhandlungen für die Ukraine geführt hatte. Diese waren nach den Gräueltaten von Butscha eingestellt worden. Die Ukraine werde vor allem dadurch stärker, „dass die Waffen, die uns von internationalen Partnern ständig versprochen werden, endlich in ausreichender Menge eintreffen“. Wann eine solche Stärkung der eigenen Position erreicht wäre, sagte Arachamija nicht.

Die Ukraine will also nicht aufgeben, nicht zurückstecken. Nach wie vor gibt man in Kiew die Rückeroberung aller besetzten Gebiete als Kriegsziel aus, nachdem Selenskyj das zwischendurch eingeschränkt hatte. Doch dass der russische Druck an den ukrainischen Verteidigern eben auch nicht spurlos vorbeigeht, zeigen die letzten Tage. Steter Tropfen höhlt den Stein – wenn Russland bereit ist, genügend seiner Waffen und Männer gegen die ukrainischen Linien zu werfen, sind weitere Erfolge vorstellbar. Den Donbass hat die Föderationsarmee ja auch erobert und alle Verteidigungsstellungen überwunden. Aber das eben unter schwersten Verlusten – ob Putin sich diese noch leisten kann (und will), ist mehr als fraglich. Aktuell ist das Momentum zwar noch bei den Russen – aber die Uhr läuft für die Ukrainer. Sie brauchen keine Verhandlungslösung, wenn sich ihre Position aktuell mit jedem Tag stärkt.

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