Ein möglicherweise fehlerhaftes Ergebnis bei den Wahlen am 26. September in Berlin kann sich auf die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages auswirken. Die Linke war trotz Scheiterns an der 5-Prozent-Hürde mit 39 Abgeordneten in den Bundestag eingezogen, weil sie drei Mandate erhalten hat, zwei davon in Berlin. Wenn die Wahl in Berlin wiederholt werden muss und eines der beiden Berliner Direktmandate der Linken nicht bestätigt wird, so könnte die Fraktion der Linken wieder aus dem Bundestag verschwinden. Und wenn Bundestagsmandate neu sortiert werden müssen, könnte es theoretisch auch Konsequenzen für die Wahl des Bundeskanzlers geben.
Die Verantwortlichkeiten müssten festgestellt werden. Dass die Landeswahlleiterin zurückgetreten ist, sei das Mindeste. Ihre Tätigkeit der Rechtsaufsicht sei allerdings dem Innensenator unterstellt, von dem er bisher noch keinen Satz dazu gehört habe. Inzwischen hat sich der Berliner Innensenator Andreas Geisel laut Tagesspiegel geäußert: „Es handelt sich um Fehler und Vorkommnisse, die wir für die Zukunft ausschließen müssen.“ Nach jetzigem Stand gehe er nicht davon aus, dass die Wahl in großem Umfang wiederholt werden muss.
Zurück zu Scholz: Für die Ungültigerklärung der Wahl ist die sogenannte Mandatsrelevanz entscheidend, erklärt der Staatsrechtler. Das heißt: Um zu Rechtsfolgen wie etwa einer Wiederholungswahl zu führen, muss ein Mangel bei einer Wahl für die Verteilung der Mandate relevant kausal gewesen sein. Nach seiner Einschätzung sieht es so aus, dass die Bundestagswahl in dieser Richtung nicht belastet war, aber auch das müsse geklärt werden. Ganz anders bei der Bezirksverordneten- und Abgeordnetenhauswahl: „Wenn in dieser Masse Mängel da sind, wie hier heute schon unbestreitbar feststeht, kann das Kriterium der Mandatsrelevanz kaum noch eine durchschlagende Rolle spielen.“ Um es kurz zu sagen: Er sei der Meinung, „wenn Mängel dieser Art und dieses Ausmaßes entstehen, muss die Wahl wiederholt werden. Die Wahl ist meines Erachtens für ungültig zu erklären.“ Der zuständige Berliner Verfassungsgerichtshof habe das Problem der Mandatskausalität nicht, er könne auch so schon entscheiden.
Mängel sind nicht mehr auf Kausalität überprüfbar
Die Bundesebene erfordert Mandatsrelevanz. Und da es auch um den Bundestag geht, ist jeder Bürger betroffen. Und jeder Bürger kann sich im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens nach Artikel 41 GG über Wahlmängel beschweren. Das Recht bestehe für jeden Bürger, so Scholz, „es ist ein Stück seines demokratischen Teilhaberechts, auch die Wahlprüfung anzurufen“. Geprüft werden müsse, ob der Bundestag möglicherweise manipulativ zusammengesetzt ist. „Nach dem Bisherigen scheint es dort bei der Bundestagswahl noch einigermaßen korrekt gelaufen zu sein, aber es scheint nur, da muss genau geprüft werden.“
Dies deckt sich mit den Erfahrungen von Anatol Wiecki, Wahlvorsteher in einem Berliner Briefwahllokal, der bemängelt, dass gemäß Wahlordnung nur eine Wahlurne für die Stimmzettel der Briefwähler vorgesehen war, obwohl es drei Wahlen waren: Bundestagswahl, Abgeordnetenhauswahl und Kommunalwahl (in Berlin Bezirksverordnetenversammlung). Dadurch konnte hinterher nicht mehr verifiziert werden, ob der jeweilige Stimmzettel für die Bundestagswahl wirklich von einem volljährigen Bundesbürger stammt. Das Problem: Zur Kommunalwahl sind EU-Bürger, die in Berlin gemeldet sind, sowie 16- und 17-Jährige berechtigt abzustimmen. Theoretisch konnte also ein Minderjähriger oder EU-Bürger auch für die Bundestagswahl stimmen, wenn ihm der entsprechende Stimmzettel vorlag. Viele Wahlämter haben an EU-Bürger und Minderjährige solche Stimmzettel in großer Menge herausgeschickt, weiß Wiecki.
Er hat das Desaster in Berlin selbst miterlebt und wurde am Wahltag – während der Auszählung – seines Amtes enthoben. Eine Mitarbeiterin des Bezirkswahlleiters von Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg forderte ihn kurz nach 18 Uhr per Handy-Anruf auf: „Sie sind hiermit vom Amt enthoben. Verlassen Sie unverzüglich das Wahllokal.“ Auf seine Frage nach der Begründung erhielt er die Antwort: „wegen Ihrer Veröffentlichungen bei Twitter“. Welche das konkret sind, weiß er bis heute nicht.
Könnte die Abberufung damit zu tun haben, dass er schon vor der Wahl auf gravierende Mängel hingewiesen hatte, die Manipulationen ermöglicht haben könnten? Ihm war aufgefallen, dass die an alle Vorstände der Briefwahllokale – das sind über 1.500 in Berlin – verschickten Hinweise für die Briefwahlvorstände für die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen am 26. September 2021, kurz: die Berliner Wahlordnung, nicht korrekt ist. Denn man wurde explizit aufgefordert, entgegen dem Bundeswahlrecht zu handeln: „Entgegen der Regelung in der Bundeswahlordnung werden leere Stimmzettelumschläge bei dieser Wahl ausnahmsweise nicht als ungültige Stimme gezählt.“ Der mögliche Wahlbetrug war offensichtlich schon in der Wahlordnung des Landes Berlin angelegt.
Wurden konservative Wählergruppen systematisch ausgegrenzt?
Marcel Luthe, der für das Berliner Abgeordnetenhaus nicht wiedergewählt wurde, kann bestätigen, dass unberechtigt gewählt wurde. Er berichtet von zahlreichen Verstößen gegen das Wahlrecht, die ihm und Bürgern, die sich bei ihm gemeldet haben, aufgefallen sind. Insgesamt kommt er auf „knapp 120 unterschiedliche Punkte bisher“. Zum einen gibt es unberechtigte Wähler, die per Briefwahl und Urnenwahl aber sämtliche Stimme abgeben konnten. Er weiß von Leuten, die falsch abgestimmt haben und von solchen, die Stimmzettel ausgehändigt bekommen haben, aber nicht genutzt haben. Er kenne diese Leute und wisse, dass das stattgefunden hat in mehreren Bezirken.
Der Verdacht, dass systematisch bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt wurden, die eher konservativ wählen, geht Luthe zwar zu weit, aber er stelle Hypothesen auf, die er dann durchprüft. Er sehe „eine bemerkenswerte Reihung von Zufällen, die aber alle eben halt bestimmte Gruppen betrifft“. Er habe keine Vorurteile, aber eine große Vorliebe für Statistik: Er hat Zahlen, Daten, Fakten gesammelt. Das können alles Zufälle sein, aber er hält es für zu leichtfertig und unwissenschaftlich, von vornherein davon auszugehen. Jede einzelne Hypothese müsse überprüft werden.
Zur Ursachenforschung: Schlamperei oder Manipulation?
Georg Gafron, ehemaliger Chefredakteur der B.Z. und des Hörfunksender Radio 100,6, ist nicht der Meinung, dass „dunkle Mächte die Wählerströme“ lenken und widerspricht damit Luthes Vermutungen. „Dafür sind sie nicht intelligent genug und zu schlampig. So etwas funktioniert nur in Diktaturen.“ Er sieht in dem Verlauf der Wahl keine mutwillige Manipulation. Die Ursache für Desaster liegt seiner Meinung nach am Schlendrian in der Verwaltung von Berlin, die weder Masken zur richtigen Zeit zur Verfügung stellen kann noch Impfstoffe. Alles läuft nach dem Lustprinzip, Spaßgesellschaft, es ist eben alles egal. Es ist der „linke Schlendrian“, der sämtliche Abläufe bestimmt. Eine Happiness-Republik, die Zeche zahlen andere. Schlamperei, Unfähigkeit, zu wenig Konzentration – das sind die Ursachen. Er stellt ebenfalls klar: „Diese Wahl muss wiederholt werden!“
Scholz warnt davor, zu viel hinein zu interpretieren. „Die Wahl ist frei und sie ist geheim. Ich kann nur den objektiven Tatbestand, dass Fehler passiert sind, ohne dass ich nachweisen kann, welcher konkret von wem zu verantworten ist, feststellen, mehr kann ich nicht feststellen. Aber das genügt. Der Sinn der Wahlprüfung ist genau der, solche objektiven Verstöße zu ahnden und die Konsequenzen zu ziehen, nicht mehr und nicht weniger.“ Und weiter: „Es wahrt die Freiheit, es wahrt das Vertrauen und es wahrt das Geheimnis des Wahlrechts. Das genügt. Da hier eklatant ist, wie viel an diesen Grundsätzen verletzt worden ist, genügt es nicht nur, sondern es ist sogar erforderlich, dass die objektiv-rechtliche Konsequenz der Wahlprüfung gezogen wird, bis hin zur Anordnung der Wiederwahl.“ Wenn man das Ganze versucht zu verdrängen – von wegen: das ist zwar bedauerlich, aber Bedauerliches führt noch nicht zur Rechtsverletzung –, wenn diese Haltung bleibt, wird demokratisches Vertrauen beim Bürger, das für den Bestand einer Demokratie unverzichtbar ist, massiv beschädigt. „Das heißt: Der Schaden für die Demokratie geht weit über den Schaden für diese Wahl noch hinaus.“
Luthe weist darauf hin, dass Wahlfälschung strafbar ist, die separat, also unabhängig von der Frage der Wahlwiederholung, betrachtet und durch zuständige Stellen geprüft werden muss. Inwieweit kann bereits strafbar sein, organisatorische Voraussetzungen, die eine Wahlfälschung erst ermöglichen, einzurichten? Zudem sei die Kernfrage: Was passiert in der Zwischenzeit? Darf sich ein Abgeordnetenhaus, darf sich die Bezirksverordnetenversammlung, darf sich ein neuer Deutscher Bundestag in dieser Konstellation überhaupt konstituieren? Welche Möglichkeiten gibt es, eine Konstituierung zu verhindern?
Demokratie funktioniert nur, wenn geordnete Verfahren eingehalten werden – das gilt insbesondere für das Wahlrecht
Um gegen mögliche Verstöße gegen das Wahlrecht vorzugehen, kann man auf mehreren Ebenen handeln:
1) Anrufung lokaler Gerichtsbarkeiten
Genau das wird Luthe tun. Er ist zwar abgewählt, aber noch sieht er sich als Abgeordneter. „Das aktuelle Parlament hat die Verantwortung.“ Er sieht den demokratischen Grundkonsens in der Bundesrepublik gefährdet und erwartet von jedem Demokraten: „Ich nehme das Mandat nicht an. Ich will Klärung.“ Er habe allerdings von noch niemandem aus dem neuen Abgeordnetenhaus gehört, der die Vorgänge hinterfragt.
2) Wahlprüfungsverfahren auf Bundesebene
Jeder Bürger hat das Recht, beim Wahlausschuss des Deutschen Bundestages eine Überprüfung einzufordern. Die Wahlprüfung ist gemäß Artikel 41 Absatz 1 Grundgesetz (GG) Sache des Deutschen Bundestages (siehe Informationsblatt zur Wahleinsprüchen).
3) Anrufung des Bundesverfassungsgerichts
Wenn der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages die Sache ablehnt, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Scholz: „Das Bundesverfassungsgericht betont das Prinzip der Demokratie.“ Er könne sich deshalb nicht vorstellen, dass das Gericht mitspielen würde beim Herunterspielen eines so eklatanten Vorgangs, der in vergleichbarer Form in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie passiert sei.
4) Der Bundespräsident als „moralische Oberinstanz“
Der Bundespräsident hat nach geltendem Recht ebenfalls die Möglichkeit, entsprechende Beschwerden einzulegen gegen die Gültigkeit von Wahlen. Man habe das bewusst so geregelt, dass der Bundespräsident ein Stück demokratische Rechtsaufsicht ist, umso schlimmer, wenn er das nicht ernst nimmt, so Scholz.
Scholz sieht ein Problem darin, dass „wir eine Parteiendemokratie sind“. Die meinungspolitische Dominanz der Parteiführungen habe sich durchgesetzt. Das einfache Parteimitglied vertraut darauf, dass die Führung das Problem schon aufgreifen wird; „von der Basis kommt zu wenig an aktivem demokratischem Bewusstsein.“ Die Demokratie, die so stabil ist über Jahrzehnte, habe dazu geführt, dass zu viel Selbstverständlichkeit im politischen Raum unterstellt wird. Der politische Raum müsse aber immer wieder hinterfragt werden, auch der einzelne Bürger ist immer wieder aufgefordert zu hinterfragen. Demokratie funktioniere nur, so Scholz weiter, wenn geordnete Verfahren da sind, die eingehalten werden. Für das Wahlrecht gelte das in besonderer Weise. „Wir haben eine Fülle von Paragraphen, die in der Regel sorgfältig formuliert sind, mit Ausnahme von solchen Fehlern, die in Berlin gemacht wurden. Aber das alles soll, muss für ein geordnetes demokratisches Verfahren sorgen.“
Erstaunlich und bemerkenswert, dass das Verfahren den Bürger nicht vermittelt wird. Es gibt keine Sondersendungen in ARD und ZDF, obwohl hier ein fundamentaler Skandal vorliegt, meint TE-Autor Gafron. Die Bürger wüssten das nicht, sie seien nicht aufgeklärt. Keine Sondersendung bei ARD und ZDF, dafür aber hier bei „Tichys Ausblick“.