Tichys Einblick
Nachruf von Douglas Murray

Roger Scruton: Ein Mann größer als seine Zeit

Sir Roger Scruton ist gestorben. Im vergangenen Sommer wurde bei ihm Krebs diagnostiziert. Nun ist er am Sonntag im Kreise seiner Familie von uns gegangen. Viel wird über ihn geschrieben werden in den nächsten Tagen. Ich habe das Gefühl, dass auch ich das hier tun sollte.

Awakening/Getty Images

Als erstes würde ich gerne das wiederholen, was seine Familie gesagt hat. Sie betont, wie stolz sie auf Roger und all das sind, was er erreicht hat. Ich glaube, dass alle seine Freunde sich hier anschließen können. Seine Errungenschaften sind bemerkenswert. Er war ein Mann, der anscheinend alles wusste und Bücher schrieb über Architektur, Philosophie, Schönheit, Musik, Religion – und vieles mehr. In vielerlei Hinsicht schien er – wie sein früherer Schüler Rabbi Sacks einmal zu mir sagte – einfach größer als sein Zeitalter gewesen zu sein.

Es schien kein Wissensgebiet zu geben, in dem er nicht zuhause war. Mitte der zweitausender Jahre waren wir im Haus unserer mittlerweile ebenfalls verstorbenen Freundin Shusha Guppy zu einem Dinner eingeladen und trafen dort bedeutende Autoren und Journalisten, alle mit einem jeweils eigenen großen Ego ausgestattet.  Ich erinnere mich, dass einer von ihnen fragte, ob Sir Roger nicht eine Neuauflage seines Buches The West and the Rest schreiben wolle. Mit der ihm eigenen, aber keinesfalls vorgetäuschten Bescheidenheit antwortete er, dass sein Farsi mittlerweile nicht mehr gut genug sei für ein solches Projekt. Wie schön es war, alle anderen Autoren im Raum zu sehen, wie sie darüber nachdachten, in diesem Moment selbst mit dem Schreiben aufzuhören!

Von der Idee der Zugehörigkeit
Wenn wir nicht für das konservative Denken einstehen, droht eine kulturelle Finsternis
Natürlich wird es in den kommenden Tagen viel Gerede über „Kontroversen“ geben. Man wird so manche Abrechnung erleben. Es ist deshalb wichtig zu betonen, dass Roger in der großen Frage unserer Zeit recht hatte. Während des kalten Krieges hatte er ja ein akademisches und kulturelles Establishment erlebt, das entweder neutral oder offen antiwestlich war. Roger dachte aber in dieser Hinsicht nicht nur richtig, sondern verhielt sich auch so. Nicht viele Philosophen werden im wirklichen Leben aktiv. Er aber tat es, indem er zusammen mit anderen die „Underground University“ gründete. Während der siebziger und achtziger Jahre nahm er ein beachtliches Risiko auf sich, als er hinter den Eisernen Vorhang ging, um heimlich wissenshungrigen Studenten Philosophie nahezubringen. Wenn Roger und seine Kollegen linksgerichtete Denker gewesen wären, die rechtsradikale Regime unterwandert hätten, um Plato und Aristoteles zu unterrichten, hätte man bestimmt einige Hollywoodfilme über sie gedreht. Aber nichts davon spielte für Roger eine Rolle. Wahrgenommen zu werden interessiert ihn nicht. Alles was er wollte, war, das Richtige zu tun, und die Flamme der philosophischen Wahrheit am Brennen zu halten in Gesellschaften, in denen die Bürokratie eifrig bemüht war, sie auszulöschen.

Nachdem er zahlreiche Preise im Ausland gewonnen hatte, wurden seine Leistungen 2016 endlich auch in Großbritannien durch seine Erhebung in den Ritterstand gewürdigt. Trotzdem blieb das Gefühl, dass er in seinem eigenen Land nicht ausreichend geschätzt wurde. Besonders im Ausland bemerkte man das. Ich kann mich nicht mehr erinnern, in wie vielen Ländern, in denen ich den traurigen Zustand des Denkens und der Politik in meinem Land erwähnte, zu hören bekam: „Aber ihr habt doch Roger Scruton!“ Als ob allein diese Tatsache den Negativ-Drall einer Gesellschaft ausgleichen könnte. In gewisser Weise war das natürlich zutreffend. Aber diese Bemerkung beleuchtete stets auch die eigenartige Unausgewogenheit zwischen seinem Ansehen zuhause und im Ausland.

Großbritannien hat seine Philosophen natürlich immer eigenartig behandelt, ein Umstand, den Roger selbst zum Teil berechtigt fand. Aber die Behandlung, die er hier zuletzt erfuhr, war oft skandalös. Gerade die Geschehnisse des letzten Jahres zeigten dies nur allzu deutlich.  Oft wurde er ins Fernsehen, ins Radio oder zu einem Zeitungsinterview nur eingeladen, um mit ihm das „Entlarve-das-rechte-Monster“-Spiel aufzuführen. Sein letztes Interview in Today war genau das. Die BBC hätte ihn zu allem befragen können, zum Beispiel zu Immanuel Kant oder Hegel oder die richtige Einstellung, mit der man die Fragen der Zeit angehen könne. Sie haben es nicht getan. Sie wollten ihn stattdessen „entlarven“.

Zum Tod des Philosophen Roger Scruton
Es fängt mit dem Ort an
Das ist natürlich eine Schande für die Medien dieses Landes und ihre intellektuelle Kultur – und nicht für ihn. Wenn es aber einen Grund gab, warum diese Versuche, ihn hereinzulegen, scheiterten, dann war es der, dass man keine Teile einer Person „entlarven“ kann, die gar nicht existieren. Natürlich konnte Roger gelegentlich seine ideologischen Zähne zeigen – dennoch war einer der nettesten, besonnensten und großzügigsten Menschen, den man sich vorstellen kann. Von unserem ersten Treffen an – ich begann gerade meine Karriere – war er stets Mentor als auch Freund für mich. Und zwar nicht nur in den großen, sondern auch den vielen kleinen Dingen, die oft wichtiger sind. Ich kann mich gar nicht an alle Leute erinnern, denen er in ähnlicher Weise geholfen hat, ohne irgendeinen Dank zu erwarten.

Ein anderer Mann als Roger wäre vielleicht wegen der Behandlung, die er erfahren hat, verbittert gewesen. Er nicht. Ganz unabhängig von seinen komplizierten Ansichten in Fragen des Glaubens legte er als wahrer Christ Wert auf Verzeihen und die Hoffnung auf Erlösung. Gerade sein letzter Beitrag für den Spectator – ein Tagebuch des vergangenen Jahres – strahlte dies aus.  Dass er nicht in diese Zeit passte, lag grundsätzlich daran, dass er die vorherrschende Atmosphäre von Feindseligkeit und geradezu berufsmäßiger Missgunst nicht mittrug. Stattdessen lebte er im Geist eines anderen Zeitalters, den zu teilen, er seine Leser ermutigte. Mit einem Sinn für Dankbarkeit für alles, was man empfangen hat und der Bereitschaft anzunehmen und zu vergeben, was verwehrt blieb.

Einer meiner ersten traurigen Gedanken, als ich von seinem Tod erfuhr, war, wieviel ich ihn noch fragen wollte. Aber in dem Geist, den er uns vermittelt hat, werde ich mich stattdessen seinen vielen Büchern in meinen Regalen zuwenden und erneut all das bestaunen, was er uns gegeben hat.


Dieser Beitrag von Douglas Murray erschien zuerst am 12. Januar 2020 in The Spectator. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme und Joachim Winter für die Übersetzung ins Deutsche.


Wir trauern mit seiner Familie und seinen Freunden um Sir Roger Scruton. Wie Douglas Murray werden wir uns noch intensiver seinen Büchern zuwenden. Wir sind stolz und dankbar, dass wir dieses Werk in deutscher Sprache veröffentlichen durften.

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