Es gibt Momente, in denen ein kurzer heftiger Sog entsteht, wenn eine Kapsel, in der starker Unterdruck herrscht, nicht mehr ganz dicht schließt. Bevor es zum kompletten Druckausgleich zwischen Drinnen und Draußen kommt, müssen diejenigen in der Kapsel, die nur noch in ihrer speziellen Atmosphäre leben können, schnell alle Ritzen schließen, bevor sie die alten Verhältnisse wieder herstellen.
Diesen Einbruch eines schädlichen Außen (das sich durch solche Havarien dann überhaupt erst bemerkbar macht) erlebte ein ziemlich großes Kollektiv von Journalisten und Politikern am 19. November, dem Tag, als die Jury des Geschworenengerichts in Kenosha, Wisconsin, das Urteil im Fall Kyle Rittenhouse verkündete. Es befand den heute 18-Jährigen, der am 25. August 2020 in Kenosha mit einem Sturmgewehr in einer von Ausschreitungen begleiteten Black-Lives-Matter-Kundgebung zwei Menschen getötet und einen verletzt hatte, in allen Anklagepunkten als nicht schuldig.
Wer den Prozess verfolgt hatte, dazu die durchaus kompetenten Rekonstruktionen des Rittenhouse-Falls, die es hier und da gab – aber eben als Ausnahme –, den konnte das Urteil nicht überraschen, dass der damals 17-Jährige in Selbstverteidigung handelte. Von den Ereignissen der Augustnacht des Jahres 2020 in Kenosha existierten von Anfang an Videoaufnahmen und Handyfotos, es gab viele Augenzeugen, im Prozess kam noch eine Drohnenaufnahme dazu. Kyle Rittenhouse wohnte damals in Antioch, Illinois, einem Ort mit 14.622 Einwohnern. Schon vor Prozessbeginn existierte kaum ein Detail seines Lebens, das nicht entweder bereits öffentlich erörtert wurde oder zumindest nicht zugänglich gewesen wäre. Anders als in allen großen Gerichtsfilmen gab es hier vor der Jury keine dramatische Wende, nichts, was plötzlich ein völlig neues Licht auf die Schüsse geworfen hätte.
Das Erstaunliche an dem Fall und seiner öffentlichen Begleitung lag in einem anderen Punkt: Nur eine kleine Minderheit von Journalisten in den USA interessierte sich überhaupt für den durchaus rekonstruierbaren Ablauf der entscheidenden Nacht in Kenosha. Dafür findet sich eine kaum noch überschaubare Zahl von Mediendarstellungen und Politikerkommentaren, in denen das faktische Ereignis selbst nur fragmentarisch, verzerrt oder so gut wie gar nicht vorkommt. Dafür nimmt das sogenannte Narrativ darin fast den gesamten Raum ein, also die Deutung, die Nutzanwendung, die politische Verarbeitung. Kyle Rittenhouse dürfte der einzige 17-Jährige gewesen sein, der unfreiwillig in dem Werbespot eines Präsidentschaftskandidaten auftauchte.
Im Fall Rittenhouse kam wie bei einer chemischen Reaktion genau das Richtige zur perfekten Menge zusammen
In den deutschen Medien stellt sich die Lage noch etwas einförmiger dar. Hier fand sich – falls der Autor nichts übersehen hat – überhaupt keine einigermaßen brauchbare Was-war-eigentlich-los-Darstellung der Ereignisse, die zu den tödlichen Schüssen in der Kleinstadt und dem großen Prozess führte. Vor der Was-war-eigentlich-los-Frage steht allerdings noch eine andere: Warum nahm das Verfahren gegen Rittenhouse mehr Raum ein als alle anderen tödlichen Begegnungen in Verbindung mit den Black-Lives-Matter-Protesten und Ausschreitungen zusammen? Die genaue Zahl schwankt je nach Bewertung, aber mindestens 25, nach anderen Quellen 29 Menschen kamen allein in den USA in der Kundgebungs- und Gewaltwelle nach dem Tod von George Floyd am 25. Mai 2020 ums Leben. In den allermeisten dieser Fälle sprachen aber die Begleitumstände gegen die Vergrößerung zum landesweiten und internationalen Symbol.
Die Polizeischüsse etwa, die Jacob Blake am 23. August 2020 in Kenosha trafen, führten zwar zu den Protesten und Plünderungen in der Stadt, die dann wiederum die Bildung der Bürgerwehr nach sich zog, zu der sich Kyle Rittenhouse meldete. Aber ein Signal von ähnlich überwältigender Kraft wie der Floyd-Tod wurde aus dem Waffeneinsatz gegen Blake nicht. Hier hatte ein weißer Polizist auf einen Schwarzen gefeuert, allerdings war dem einiges vorausgegangen. Blake, damals schon durch sexuelle Belästigung und andere Delikte aktenkundig, hatte an diesem Tag das Auto seiner Freundin gegen deren Willen genommen, in dem auch ihre Kinder saßen. Deshalb, wegen des Notrufs der Frau, sprachen Polizeibeamte Blake an, es kam zu einem Handgemenge mit den Beamten, und schließlich langte Blake in das Auto, um nach einem Messer zu greifen, das er dort gelagert hatte. In dem Moment schoss der Beamte Rusten Sheskey auf ihn; Blake überlebte schwer verletzt. Er bestritt später nicht, nach dem Messer gegriffen zu haben. (Viele Berichte über Rittenhouse erwähnten das Ereignis mit der formelhaften Formulierung, die Polizei habe einem Schwarzen in den Rücken geschossen, ohne in die Details zu gehen).
Der Mord an dem schwarzen 77-jährigen Ex-Polizisten David Dorn am 2. Juni in St. Louis entwickelte sich aus anderen Gründen nicht zu dem großen, emblematischen Fall: Bei Dorn handelte es sich zweifellos um einen couragierten Mann; er versuchte in einer Mischung aus BLM-Demonstration und Vandalismus, einen Laden vor Plünderern zu schützen. Allerdings war sein Mörder Stephan Cannon, 22, ebenfalls schwarz.
James Scurlock wiederum, der am 30. Mai in Omaha erschossen wurde, war schwarz, der Schütze ein Weißer. Allerdings war der schon mehrfach vorbestrafte Scurlock in die Bar von Jacob Gardner eingedrungen. Videoaufnahmen zeigten, dass er Gardner in einen Würgegriff nahm, der Scurlock in Selbstverteidigung erschoss. Es forderten dann zwar BLM-Demonstranten “Justice for James“, und das mittlerweile eingestellte deutsche Jugendportal noizz machte aus der Notwehr faktenbereinigt einen neuen Fall „Weißer erschießt Schwarzen“. Allerdings fällt denjenigen, die störende Details weglassen, notwendigerweise auch auf, dass diese Narrativstörungen grundsätzlich existieren.
Entweder passten also das Opfer oder der Täter nicht ganz, manchmal schied eine Gewalttat in Zusammenhang mit den Protesten und Ausschreitungen auch von vornherein für die symbolische Verdichtung aus. Etwa der Mord an Aaron Jay Danielson am 29. August 2020 in Portland: Danielson gehörte der sehr weit rechts stehenden Patriot-Prayer-Gruppe an, der Mann, der auf ihn feuerte, Michael F. Reinoehl, der Antifa. Mehr als zwei Dutzend Tötungen tauchten also jeweils kurz im Nachrichtenstrom auf, sanken aber auch nach kurzer Zeit wieder auf den Status von lokalen Ereignissen herab, die es bestenfalls in die überregionalen Chroniken entweder sehr linker oder sehr rechter Gruppen schafften.
Aus dem Fall Rittenhouse dagegen entstand wie bei einer chemischen Reaktion, bei der zufällig alle Zutaten in der perfekten Menge zusammenkommen, schon unmittelbar nach den Schüssen die überlebensgroße exemplarische Erzählung, nach der so viele gesucht hatten. Und diese Erzählung, die sich dann in den Medien wie eine Ballade durch ständige Wiederholung formte, klang ungefähr so: Ein babyspeckiger 17-jähriger militär- und waffenverrückter Trump-Anhänger reist mit seinem Sturmgewehr extra aus einem anderen Bundesstaat (Illinois) nach Kenosha, Wisconsin, wo es nach den Polizeischüssen auf Jacob Blake (weißer Polizist, schwarzes Opfer, Schüsse in den Rücken) zu Protesten und Plünderungen gekommen war, schließt sich dort einer Bürgerwehr an, erschießt in der chaotischen Nacht mit seiner AR-15 zwei junge Männer, verletzt einen dritten, wird von Trump verteidigt, von Trump-Anhängern und Waffenfans bejubelt und feiert in einer Kneipe, kaum auf Kaution frei, mit Angehörigen der rechtsextremen „Proud Boys“.
Zwar handelte es sich bei den drei Männern, auf die Rittenhouse feuerte, ebenfalls um Weiße. Aber viele Journalisten ließen dieses Detail in den ersten Meldungen weg, betonten dafür umso mehr den Grund für die Unruhen – Schüsse auf einen Schwarzen – und rechtfertigten so das Schlüsselwort White Supremacy als eigentliches Tatmotiv von Rittenhouse. Genau das macht ein Narrativ aus, eine Erzählung: Ihre Elemente greifen ineinander und laufen auf eine Pointe zu, eine universelle Nutzanwendung. Noch lange vor dem Rittenhouse-Urteil fasste John Baick, Professor für moderne amerikanische Geschichte an der Universität Springfield, Massachusetts, das Besondere dieser Erzählung in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP zusammen: Er nannte den Prozess „einen Moment des Reality TV“, und „eine weitere Schlacht auf dem Feld, das die zentrale Story unserer Zeit bildet – den Kulturkriegen“. Mit diesem Verfahren, so Baick, „müssen wir den 6. Januar verbinden (den Sturm auf das Kapitol), Anti-Masken-Proteste, Proteste der Schulbehörden. Ob es um Kenosha geht, um Minneapolis oder den gesamten Staat Florida, die Debatten über die Rolle der Regierung, die Rolle von Recht und Ordnung – über all das besteht eine tiefe Uneinigkeit in Amerika, wie es sie seit den 1960er Jahren nicht mehr gegeben hat.“
Vor dem Geschworenengericht in Kenosha stand also nicht nur der immer noch babygesichtige Kyle Rittenhouse vor Gericht. Sondern auch Trump, die Waffenlobby, das Selbstverteidigungsrecht und das Recht der politischen Lager auf eine umfassende Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsdeutung für die disparaten Staaten von Amerika. Und damit ging es auch um die Funktion des Justizsystems als Ganzes: Der Druck, der auf den Jurymitgliedern und Richter Bruce Schroeder lastete, lässt sich höchstens noch mit der Situation des Gerichts im Floyd- und im O.J.-Simpson-Prozess vergleichen.
Die oben skizzierte Erzählung von dem eigens nach Kenosha angereisten schießwütigen rechten Rassisten Rittenhouse, die, wie der Historiker Baick zu Recht meint, im Zentrum eines Kulturkriegs steht, diese Erzählung hat noch eine zweite grundlegende Eigenschaft: An ihr stimmt praktisch nichts. Bei fast jedem der liturgisch wiederholten Details handelt es sich entweder um Irreführung, Verzerrung oder Falschdarstellung, viele davon mutwillig.
Schon unmittelbar nach den Schüssen, am 27. August, betonte die Washington Post, Rittenhouse sei mit seinem Sturmgewehr nach Kenosha gefahren, er habe eine Staatsgrenze überschritten, sei also in einen Ort gereist, in dem er eigentlich nichts zu suchen hatte, um sich dort mit seiner Waffe in Szene zu setzen („So much so that, when the unrest broke out in Kenosha, he crossed state lines to offer his presence as an armed supplement to overwhelmed local police departments“). Hunderte andere Journalisten wiederholten seitdem diesen Balladenauftakt („crossed state lines“) nicht nur in den USA, sondern weltweit. Rittenhouse lebte damals, siehe oben, bei seiner Mutter in Antioch, einem Dorf unmittelbar an der Grenze zu Wisconsin, in dem viele schon die Staatsgrenze überschreiten, wenn sie ihren Hund ausführen. Von dort nach Kenosha sind es 20 Meilen, eine Autofahrt von gut 20 Minuten. Und Kenosha ist für Rittenhouse eine zweite Heimat – dort lebt sein Vater, seine Tante, seine Großmutter, er selbst hatte als Rettungsschwimmer in der Stadt gearbeitet. Er fuhr auch nicht mit der AR-15 nach Kenosha. Ein Freund in der Stadt hatte sie für ihn gekauft, da er als Minderjähriger noch keine Waffe hätte erwerben können, und er übergab sie ihm dort. Das Tragen einer Langwaffe ist nach den Gesetzen von Wisconsin auch für einen 17-Jährigen legal.
Die aus Kalifornien stammende demokratische Kongressabgeordnete Karen Bass erzählte in einem CNN-Interview am 14. November 2020 vor einem Millionenpublikum die frei erfundene Geschichte, Kyle Rittenhouses Mutter habe ihn und die Waffe nach Kenosha gefahren, deshalb gehöre eigentlich auch die Mutter angeklagt: “Here, you have a 17-year-old boy who was driven by his mother across state lines with an automatic weapon – frankly, she should have been detained for child endangerment.” Ab einem bestimmten Punkt fühlten sich viele Politiker und Journalisten berechtigt, die Rittenhouse-Geschichte mit ihrem persönlichen Beitrag auszuschmücken, die als kollektive Erzählung kaum noch etwas mit den Ereignissen der Nacht zu tun hatte.
Bass‘ Geschichte von der Mutter, die ihren Kyle samt Sturmgewehr ins Auge des Orkans kutschiert, wurde in den sozialen Medien hundertfach nachgeplappert. Bass war es auch, die in dem gleichen Interview begründete, warum Rittenhouses Schüsse rassistisch gewesen seien, obwohl er damit drei Weiße traf: Die hätten dort „in Solidarität“ mit Schwarzen (also Blake) demonstriert. Abgesehen davon, dass er auf alle drei feuerte, weil sie ihn bedroht hatten, einer davon, Gaige Grosskreutz, mit gezogener Pistole, gibt es auch erhebliche Zweifel, ob Solidarität mit den Anliegen von Schwarzen tatsächlich das ausschlaggebende Motiv der drei war, die sich in dieser Mischzone aus zerfasernder Demonstration und beginnenden Plünderungen in der Nähe von mehreren Autohandelsunternehmen in Kenosha einfanden.
Die Mär von Rittenhouse, der mit der Waffe nach Kenosha gefahren war, kolportierte auch Bill de Blasio, demokratischer Bürgermeister von New York, in einem Tweet am Tag des Freispruchs: “Anthony Huber und Joseph Rosenbaum sind Opfer. Sie sollten heute am Leben sein. Der einzige Grund, warum sie es nicht sind, ist, dass ein gewalttätiger, gefährlicher Mann beschlossen hat, mit einer Waffe in einen anderen Bundesstaat zu gehen und damit begonnen hat, Menschen zu erschießen. Dieses Urteil als Justizirrtum zu bezeichnen, ist eine Untertreibung.”
Wenn das Passende fehlt, wird das Bild eben anderweitig passend gemacht. Aus einer Projektionsfläche wurde eine ‚Symbolfigur‘
Wahrscheinlich gab es noch nie einen vor Gericht verhandelten Fall mit einer derartigen politischen Aufladung, zu dem gleichzeitig Szene für Szene Videoaufnahmen vorliegen. Die Filmsequenzen beantworten natürlich noch nicht die Frage nach der juristischen Beurteilung. Aber sie erlauben es, die Ereignisse der Nacht vom 25. August 2020 auf dem Parkplatz von Kenosha zu rekonstruieren. Dort gehört Rittenhouse mit seiner roten Medizintasche und seiner AR-15 zu einer Bürgerwehr, einer Art Miliz von Freiwilligen, die sich als Unterstützer der Polizei sehen und versuchen, die umliegenden Geschäfte vor Plünderungen zu schützen. In einer nächtlichen Szene vor den Schüssen ist zu sehen, wie gepanzerte Polizeiwagen in der Straße patrouillieren; ein Polizist wirft Rittenhouse aus der Luke des Fahrzeugs eine Mineralwasserflasche zu.
Die Ereignisse später auf dem Parkplatz nahe der Sheridan Road, um die es in dem Prozess ging, dauern insgesamt nur wenige Minuten. Zu dieser Stunde gibt es eigentlich keine Demonstration mehr, sondern lose Pulks von Leuten. Über der nächtlichen Szene liegt eine extreme Anspannung. Es fallen Schüsse (die nicht Rittenhouse abgibt, sondern jemand anderes), aber einige aus der Menge halten offenbar den jungen Mann mit der AR-15 für den Schützen. Sie rennen auf ihn zu, Rittenhouse rennt davon. Ein Mann, Joseph Rosenbaum, wirft einen Plastiksack nach ihm. Dann folgen wenige Sekunden, zu denen es keine Aufnahmen gibt. Rittenhouse sagt später vor Gericht, Rosenbaum habe mit beiden Händen nach dem Gewehr gegriffen und versucht, ihm die Waffe wegzureißen. Diese Darstellung bestätigt auch ein Augenzeuge vor Gericht. Rittenhouse tötet Rosenbaum mit vier Schüssen, und rennt weiter. Ihm folgen immer noch mehrere Männer. Auf seiner Flucht stolpert Rittenhouse; in dem Moment, in dem er auf dem Boden liegt, springt ein bis heute öffentlich unbekannter Mann, der vor Gericht und in den Medien nur als „Jump Kick Man“ bezeichnet wurde, mit gestrecktem Bein auf den liegenden Teenager zu. Rittenhouse schießt zweimal in dessen Richtung, ohne ihn zu treffen.
Fast im gleichen Moment schlägt Anthony Huber mit seinem Skateboard auf den immer noch liegenden Rittenhouse. In sehr vielen späteren Berichten heißt es opak, Huber habe sein Skateboard „geschwungen“. Tatsächlich verfehlt Hubers Hieb nur knapp den Kopf von Rittenhouse, und trifft ihn an der Schulter.
Rittenhouse gibt aus liegender Position erneut einen Schuss ab, der Huber in die Brust trifft und ihn tötet. Während der getroffene Huber davonwankt, bewegt sich Gaige Paul Grosskreutz auf Rittenhouse zu. Erst hebt er die Arme, als würde er sich Rittenhouse und dessen AR-15 ergeben. Dann zieht er seine Waffe, eine Pistole der Marke Glock (für deren verdecktes Führen, wie sich später herausstellte, Grosskreutz keine gültige Lizenz mehr besaß, er hatte es versäumt, sie zu verlängern), und richtet sie auf Rittenhouse. Der feuert ein letztes Mal. Sein Schuss trifft Grosskreutz in den Bizeps des rechten Arms, in dem er die Pistole hält.
Gaige Grosskreutz unmittelbar, nachdem ihn Rittenhouse am Arm traf
Gegenüber der Polizei hatte Grosskreutz zunächst behauptet, er sei nicht bewaffnet gewesen. Eine andere Aussage von Grosskreutz lautete, seine Arme seien erhoben gewesen, als Rittenhouse auf ihn geschossen habe. Vor Gericht antwortete er dann allerdings auf die Frage des Rittenhouse-Anwalts zum Moment des Schusses: „Es passierte also nicht, bevor Sie die Pistole auf ihn richteten und Sie sich ihm mit Ihrer Waffe näherten, dass er schoss?“, mit: „Korrekt.“ (“It wasn’t until you pointed your gun at him, advanced at him with your gun that he fired?“ “Correct.”) Diese Aussage deckt sich mit den Videobildern. Warum er seine Waffe zog und damit auf den vor ihm auf dem Boden sitzenden Rittenhouse zielte, konnte er nicht erklären, versicherte aber, er hätte nie daran gedacht, selbst zu schießen.
Niemand muss Kyle Rittenhouse nach diesem Prozess besonders sympathisch finden. Zu seinen Persönlichkeitszügen gehört ein Hang zur martialischen Selbstdarstellung – die AR-15, die sein Freund für ihn kaufte, suchte er sich aus praktischen Gründen aus (eine verdeckt getragene Kurzwaffe hätte er nach Wisconsin-Recht nicht tragen dürfen), aber auch, weil er dachte, mit dem Sturmgewehr sähe er „cool“ aus. Er behauptete außerdem kurz vor den Schüssen in einem Interview, er wäre ein EMT (Emergency Medical Technician, ein Notfallhelfer, der mindestens einen 170-Stunden-Kurs absolviert hat), obwohl er die Qualifikation nicht besaß. Die Fernsehnation lernte ihn als Teenager kennen, der bis zu diesem 25. August 2020 offensichtlich gern größer erscheinen wollte, als er war. Dass sich wahrscheinlich auch in dreißig Jahren noch Millionen an seinen Namen erinnern können, an dem ewig Hass kleben wird, und dass er jetzt wahrscheinlich sehr gern wieder unauffälliger wäre, dieses Paradox dürfte ihn lebenslang verfolgen. Aber das Verfahren zeigte ihn eben auch als Jugendlichen, der davonrannte, obwohl er ein Sturmgewehr besaß, und der erst dann aus nächster Nähe schoss, als er um sein Leben fürchtete.
Auch von dem in düstersten Farben gepinselten Porträt Rittenhouses als radikalen Rechtsaußen blieb nichts übrig. Es gibt Fotos von ihm, die ihn nach seiner Freilassung auf Kaution zeigen, wie er in einer Kneipe neben einem mutmaßlichen Anhänger oder Mitglied der „Proud Boys“ steht. Er posiert für ein Handy-Foto, mit seiner Hand formt er einen Kreis aus Daumen und Zeigefinger, ein Zeichen, das tatsächlich als Gruß von den „Proud Boys“ und anderen weit rechten Gruppen benutzt wird, allerdings auch schon seit Jahrzehnten als völlig unpolitische O.k.-Geste. Es existieren keine Belege, dass er die Männer in der Kneipe kannte, die ihn baten, ob sie ein Foto machen könnten. Es gibt auch sonst keinerlei bekannte Verbindungen von Rittenhouse mit irgendeiner extremistischen Organisation im Besonderen oder der organisierten Politik allgemein. Das Maximale, das die große Suchaktion zutage förderte, war eine Aufnahme Rittenhouses im Publikum einer Trump-Wahlkampfrede in Des Moines.
So gründlich, wie Dutzende Journalisten die Social-Media-Accounts des Teenagers auf der Suche nach irgendeiner extremistischen Position, nach einer rassistischen Bemerkung oder wenigstens einem interpretierbaren Halbsatz umgegraben hatten, durchleuchten Medienleute normalerweise nur Präsidentschaftskandidaten. Sie fanden nichts – nicht den kleinsten Schnipsel, der zu ihrem Rittenhouse-Wunschnarrativ passte.
Wo das Passende fehlt, wird das Bild eben anderweitig passend gemacht. In fast jedem Rittenhouse-Text war und ist deshalb zu lesen, er sei die Symbolfigur des rechten Amerika, der Waffenlobby, der White Supremacists, Trump habe ihn öffentlich verteidigt. Das stimmt zwar, aber eben nur als agitatorische Halbwahrheit. Es macht eben einen entscheidenden Unterschied, ob jemand selbst bestimmte Ansichten selbst verkörpert, oder ob er anderen als Projektionsfläche dient. Und Rittenhouse dient bis heute eben auch dem linken Amerika als Projektionsfläche und Hassobjekt, wobei sich der Hass, siehe oben, nicht nur auf ihn beschränkt, sondern auch seine Familie einschließt.
Trump hatte seinerzeit auf Nachfrage in einer White House-Pressekonferenz zu Kenosha und Rittenhouse gesagt: „Er hat versucht, wegzulaufen, sie haben ihn sehr gewalttätig attackiert, möglicherweise wäre er getötet worden. Er war in ziemlich großen Schwierigkeiten. Aber das ist Gegenstand der Untersuchungen“ (seine Einschränkung „it’s under investigation“ ließen fast alle weg, die Trump später zitierten). Bidens Kampagnenteam schickte am 30. September 2020 einen Wahlkampfspot in die Social-Media-Kanäle, in dem er seine Frage aus dem TV-Duell an Trump wiederholte, ob er sich von „white supremacists“ distanzieren werde, und blendete dazu auch kurz ein Foto von Rittenhouse ein. Dafür entschuldigte er sich nicht nur nie; seine Sprecherin Jen Psaki verteidigte den Spot vor der Presse am 19. November noch einmal wortreich und kam dabei auch in kryptischen Andeutungen auf das Kneipenfoto aus Kenosha zu sprechen.
Der kurze, heftige Sog, der Druckausgleich in der Narrativkapsel fand am 19. November 2021 statt, als die Jury das Urteil verkündete und Journalisten, Politiker und Sprecher aller möglicher Organisationen akzeptieren mussten, dass die Gerichtsszene in Kensosha nicht zum Tribunal über Trump, den Waffenbesitz und das halsstarrige traditionelle Amerika geworden war, sondern sich einzig und allein mit der Frage beschäftigt hatte, ob Kyle Rittenhouse nach den in Wisconsin geltenden Gesetzen in Selbstverteidigung gehandelt hatte oder nicht.
In der monatelangen Berichterstattung hatte es zwar eine Menge Verdrehung, Einseitigkeit und agitatorischen Eifer gegeben. Allerdings und das gehört zu den wenigen hoffnungsvollen Punkten – reagierten die Medien nicht uniform. Sie sortierten sich nicht auf erwartbare Weise entlang der politischen Demarkationslinie. Es gab nach dem Urteil einen kurzen Realitätsschock der Journalisten, die wild um sich schlugen und versuchten, ihr Narrativ wieder zusammenzuflicken, etwa bei MSNBC mit der Schlagzeile im Sowjetstil: „Der Rittenhouse-Prozess war dazu da, um weiße Konservative zu schützen, die töten“.
Der Text von Charles Horman etwa im New York Times Magazine oder die lange Reportage von Paige Williams im linksliberalen New Yorker leuchten den Fall dagegen sehr penibel, nach traditionellen journalistischen Standards und mit einem Interesse an den Details aus. Sie präsentieren ihren Lesern kein Narrativ, keine Liturgie. Sie deuten die Ereignisse, versuchen aber vorher herauszufinden, was passiert war. Wie die Berichterstattung ausfiel, entschied sich nicht am Links/Rechts-Schema, sondern offensichtlich vor allem daran, ob sich jemand als klassischer Journalist versteht oder nicht.
In den USA entwickelte sich der Fall Rittenhouse zum Desaster der Chattering Classes. In Deutschland markiert er die Insolvenz eines Großteil des Medienbetriebs
Für die deutschen Medien sieht das etwas anders aus. Hier findet sich von Taz und T-Online bis zur FAZ kein einziger Text, in dem ein Journalist auch nur den Versuch unternimmt, den Fall zu rekonstruieren. T-Online schaffte es, die mit Abstand dümmste Überschrift aller deutschen Medien über ihr Rittenhouse-Stück zu setzen: „Kind oder Killer? Diese Frage spaltet die USA“.
So, als ob es in dem Verfahren um eine Altersfeststellung gegangen wäre. Auch sonst rührte das Portal alle zu diesem Zeitpunkt schon längst widerlegten Behauptungen von dem Jungen, der mit seiner Waffe aus weiter Entfernung nach Kenosha reist, noch einmal cremig zusammen:
„Kyle Rittenhouse ist 17 Jahre alt, als er sich Ende August vergangenen Jahres mit einem AR-15, einem halbautomatischen Gewehr, auf den Weg nach Kenosha im US-Bundesstaat Wisconsin macht. Wenige Stunden später sind zwei Menschen tot: der 36-jährige Joseph Rosenbaum und der 26-jährige Anthony Huber. Ein dritter Mann, Gaige Grosskreutz (26), ist schwer verletzt.Ganz anders die Staatsanwaltschaft: Schon allein, dass Kyle Rittenhouse als 17-Jähriger mit einer solch gefährlichen Waffe unterwegs war, verstoße gegen das Gesetz. Wer als ‚Chaos-Tourist‘ so weit aus seiner Heimat im benachbarten Bundesstaat Illinois anreise, plane den Einsatz der Waffe und kalkuliere damit auch eine Tötung wissentlich mit ein.“
Dass es sich bei T-Online um einen Lieferanten von unbeholfen zusammengestoppeltem Nachrichten-Fastfood handelt, wird niemand ernsthaft bestreiten. Aber dass dort nicht einmal jemand auf eine Karte schaut, um die Entfernung zwischen Antioch und Kenosha zu überprüfen, ist schon erstaunlich.
„Dieses Urteil ist für viele ein Schock“, meint Juliane Schäuble im Tagesspiegel, „eine weitere Entscheidung, die die ‘white supremacy‘, die Überlegenheit der Weißen, untermauere. Für viele ist die Jury-Entscheidung zudem ein Beleg für ein kaputtes Rechtssystem […] Sie haben sich ganz offensichtlich weniger mit der Frage beschäftigt, was es über eine Gesellschaft aussagt, dass sich die einen Bürger aufgerufen fühlen, selbst ihr Eigentum oder das anderer zu verteidigen. Und die anderen nicht darauf vertrauen, dass die Polizei und das Justizsystem als Ganzes unparteiisch handeln kann. Das Misstrauen in staatliche Strukturen, das zeigt der Fall Rittenhouse glasklar, ist in den USA erschreckend groß.“
Warum es überhaupt nötig war, in Kenosha, St. Louis, Portland und vielen anderen Städten das Eigentum von Bürgern gegen Plünderer zu verteidigen, und was Plünderungen von kleinen Läden inklusive Totschlag und Mord überhaupt mit einem Kampf für Gerechtigkeit zu tun haben sollten – diese Frage stellt sich Schäuble gar nicht erst. In den USA wurde 2020 das Buch „In Defense of Looting“ von Vicky Osterweil in der linken US-Schwatzkaste als radical chic der Stunde breit beklatscht, ein groteskes Lob des Plünderns für die gute Sache, aus dem die bessere Welt entstehen soll: “They rip, tear, burn, and destroy to give birth to a new world”. Gewalt ist gut, wenn sie von den richtigen verübt wird. So ähnlich stand das auch schon im Tagesspiegel: „Danke, liebe Antifa“.
Unter der Dachzeile „USA Waffen Rassismus“ dichtet das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) wohlgemerkt nach dem Freispruch für Rittenhouse:
„Kenosha-Schütze Kyle Rittenhouse: Vom Totschläger zum Freiheitsheld“,
und verquirlt die Nachverurteilung mit dem unvermeidlichen Trump-Trigger: „Nach seinem Freispruch kann sich Kyle Rittenhouse, der Schütze von Kenosha, vor dem Zuspruch der Trump-Anhänger kaum retten.“ Auch bei RND steht das Narrativ über allem: „Es geht um ein bizarres Recht auf Waffenbesitz und Selbstverteidigung“ – bizarr, bizarr, was anderswo alles im Gesetz steht. Und, weil es ja auch alle anderen schreiben: „Rittenhouse war im Zuge der teilweise gewalttätigen Proteste mit einem Sturmgewehr vom Typ M&P 15 nach Kenosha gefahren – angeblich, um dort einen Autohandel vor Plünderungen zu schützen.“
Auch in der Zeit heißt es – am 2. Dezember 2021 – im Sing-along-Stil: „Kyle Rittenhouse war 17, als er im vergangenen Sommer nach Kenosha im US-Bundesstaat Wisconsin fuhr, um, wie er sagt, das Eigentum anderer vor Plünderungen während der Antirassismusproteste zu schützen. Mit dabei hatte er ein AR-15, ein halbautomatisches Sturmgewehr.“
Bei der Zeit unterhalten sich in einem Podcast die US-Korrespondentin Rieke Havertz und Klaus Brinkbäumer, Spiegel-Chef in der Relotius-Ära und heute MDR-Chefredakteur mit viel Tagesfreizeit für andere Medienauftritte, über das Thema: „Amerikas rassistische Justiz?“
Beide räsonieren ein bisschen, ob das Fragezeichen überhaupt gerechtfertigt sei, gestehen dann aber zu, im Rittenhouse-Prozess könnte man das vielleicht noch setzen, in anderen Fällen aber nicht mehr. Havertz, die behauptet, die Ereignisse nachzuerzählen, narratiert, Rittenhouse sei dabei gewesen (und habe dann geschossen), als es „zum Zusammenstoß der beiden Protestgruppen kam“. Bekanntlich gab es in Kenosha keine zwei Protestgruppen. Brinkbäumer doziert, die Verteidiger von Rittenhouse hätten vor Gericht „eine Theorie der Selbstverteidigung entwickelt“. Völlig irre, nicht wahr, in einem Prozess, in dem es um die Frage ging, ob der Angeklagte in Selbstverteidigung gehandelt hatte oder nicht.
In der Taz kommen wie fast überall in den deutschsprachigen Medien fast nur diejenigen zu Wort, die sich erregen, und von denen wiederum die radikalsten: „Viele Demonstranten nannten den frei gesprochenen Rittenhouse einen ‚Mörder‘. Aber zugleich zogen sie auch den Richter von Kenosha zur Verantwortung. ‚Der KKK ist in den Gerichten‘ war auf einem Transparent der New Yorker Demonstration zu lesen. Der KKK – für Ku-Klux-Klan – ist ein gewalttätiger, rassistischer Geheimbund.“
Die FAZ stellt die schon aus praktischen Gründen unbeantwortbare Frage: „Wäre ein Afroamerikaner auch freigesprochen worden?“, unbeantwortbar deshalb, weil es schließlich keinen schwarzen Kyle Rittenhouse gibt. Allerdings: Hätte ein Schwarzer zwei ebenfalls schwarze Angreifer erschossen und einen dritten verletzt, in welcher Umgebung auch immer, wäre er wahrscheinlich nicht von großen Teilen der medialen und politischen Öffentlichkeit zur Hassfigur stilisiert worden.
„Unabhängig von der Auseinandersetzung über das Urteil ist bereits deutlich“, schreibt die FAZ-Korrespondentin, „dass Rittenhouse eine neue Identifikationsfigur für Amerikas Rechte ist. Seit Monaten konnte man auf ihren Veranstaltungen schon Fanartikel wie T-Shirts mit dem Namen des Teenagers sehen. In den vergangenen Wochen verteidigten ihn vor allem die rechten Medien wie Fox News. Rittenhouse erlaubte dem Team von Fox-Moderator Tucker Carlson auch, ihn beim Prozess exklusiv zu begleiten – am Montag will der Sender ein ausführliches Interview mit dem Freigesprochenen ausstrahlen.“
Was eigentlich am 25. August 2020 in Kenosha und dann während des Prozesses genau passierte, erfährt der Leser bei ihr nicht, übrigens auch nicht in den anderen FAZ-Artikeln zu dem Thema. FAZ-Redakteurin Frauke Steffens bringt sogar das Kunststück fertig, bei ihrem kurzen erratischen Abriss des Geschehens Gaige Grosskreutz, den Mann mit der Pistole, im Gegensatz zu den beiden Erschossenen noch nicht einmal zu erwähnen. Stattdessen müssen Leser bei ihr wie auch bei fast allen anderen deutschsprachigen Berichterstattern den Eindruck bekommen, bei Rittenhouse handle es sich um einen politischen Adoptivsohn Trumps oder zumindest Tucker Carlsons. Die Agitationswelle linker Medien und Politiker gegen Rittenhouse und dessen Familie kommt weder bei ihr noch bei den Dutzenden anderen Medien vor, die im gleichen Stil ihre Balladen servieren. Und dieser Gesang, so lautet das trübe Fazit, klingt auf Deutsch durchweg noch dumpfer und grobschlächtiger als in den US-Originalquellen.
Anders als in den USA gibt es kein rares Gegenbeispiel für den Versuch, überhaupt die Faktenebene zu betreten. Wie schon in Dutzenden anderen deutschen Berichten über die Ereignisse nach dem Tod George Floyds spielen Plünderungen, Brandstiftungen und die narrativtechnisch nicht verwertbaren dutzendfachen Morde und Totschlagsdelikte im Zug der BLM-Demonstrationen keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle (Paige Williams im New Yorker widmet genau diesen Plünderungen und Ausschreitungen in ihrem Text über den Fall Rittenhouse übrigens einen längeren Abschnitt).
Der Fall Rittenhouse und seine Medienbegleitung entwickelte sich in den USA für viele Medien zum Desaster einer Chattering Class, die im festen Bewusstsein lebt, mit dem von ihr erzeugten Geräusch juristische und auch gesellschaftliche Prozesse lenken zu können. Für ihre deutsche Entsprechung markiert er eine Insolvenz, die sich nicht länger vertuschen lässt. Wenn Textverfasser noch nicht einmal gut auf Video dokumentierte Ereignisse nacherzählen können, wenn sie es nicht schaffen, die Entfernung zwischen zwei Ortschaften festzustellen, wenn sie seit Monaten widerlegte Behauptungen noch einmal und noch einmal in die Tastatur klopfen, wenn sie einen gerade Freigesprochenen zum Totschläger erklären und das Wort ‘Rassismus‘ wie Ketchup über seinen Textauflauf kippen, Hauptsache reichlich – warum sollten Leser von ihnen und ihren Medien überhaupt noch irgendeinen Beitrag erwarten, der etwas über die Welt draußen aussagt? Texte dieser Art erzählen alles über die Obsessionen ihrer Autoren. Die sind allerdings erstens bekannt, zweitens unoriginell, und drittens weisen sie, wie das Beispiel des Falls Rittenhouse zeigt, auch nur schmale Schnittstellen mit der Faktenebene auf. Vielleicht sollten die Verfasser der entsprechenden Texte über eine neue Berufsbezeichnung nachdenken. Narrativschaffende wäre eine Möglichkeit.
Claas Relotius‘ gedichtete Texte über dumpfe, hinterwäldlerische waffenverrückte Trump-Rednecks waren keine Betriebsunfälle. Damals, als er aufflog, galt der Spiegel-Cheferzähler noch als bestauntes Phänomen der Branche, ein bisschen Hanussen, ein bisschen Elephant Man. Heute gibt es Dutzende kleine Nachfolger und Nachfolgerinnen quer durch den Medienbetrieb. Wer einen Journarrativismus wünscht, bei dem Medienmitarbeiter ihre Kunden aufgeregt am Ärmel zerren, ihnen Haltungsmitteilungen ins Ohr schreien und dafür noch Geld verlangen, der findet in Deutschland jedenfalls ein ideales Biotop.
Wer erfahren will, was außerhalb der abgedichteten Kapsel vor sich geht: Für den gibt es auch genügend Quellen.
Nur wählen muss jeder selbst.