Die gesetzliche Rentenversicherung ist besser als ihr Ruf, schallt es wie ein Mantra immer wieder aus Berliner Regierungskreisen. Und tatsächlich: Selbst im CoronaJahr 2020 gab es eine stattliche Erhöhung in Ost (4,2 Prozent) wie in Westdeutsch land (3,45 Prozent). Das lag daran, dass die Referenzgröße – die Lohn und Gehaltsentwicklung der Aktiven im Vorjahr – 2019 kräftig gestiegen war. Der Mechanismus ist allerdings asymmetrisch. Eine Schutzklausel sorgt in diesem Jahr dafür, dass es keine Rentenkürzung gibt, obwohl die Löhne Lockdownbedingt im vergangenen Jahr um 0,6 Prozent gesunken sind.
Dass die deutschen Renten im internationalen Vergleich allerdings mehr als bescheiden ausfallen, wird bei der Betrachtung der Steigerungsraten aus geblendet. Und zwar ebenso wie die Tatsache, dass sich die Schere zwischen den stattlichen Beamtenpensionen und den eher bescheidenen gesetzlichen Renten immer weiter öffnet. Dass Millionen von Rentnern vom Fiskus so wohl in der Einzahlungsphase als auch beim Rentenbezug besteuert und damit zweimal abkassiert werden, ignoriert die Bundesregierung zudem komplett.
Immerhin hat sich der Bundestag auf Antrag der FDP-Fraktion kürzlich wieder einmal mit dem Thema Doppelbesteuerung der Renten befasst. Womöglich schafft es dieses Reizthema sogar in den Bundestagswahlkampf. Zeit wäre es, dieses Problem anzugehen.
Wie es dazu kam, ist schnell erzählt. Am 6. März 2002 entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe, die unterschiedliche steuerliche Behandlung von Renten und Pensionen sei verfassungswidrig. Denn Beamtenpensionen waren voll steuerpflichtig, Renten dagegen nur mit ihrem vermeintlich niedrigen Ertragsanteil von 27 Prozent. Dass Beamte aber für ihre späteren Pensionen keine Beiträge leisten, die Beitragszahler für ihre Altersrente aber sehr wohl, übersahen die Verfassungsrichter bei ihrer Entscheidung.
Fehlerhaftes Urteil bringt Probleme
Infolge des höchstrichterlichen Verdikts musste der Gesetzgeber in der zweiten rotgrünen Regierungszeit unter Kanzler Gerhard Schröder eine Neuregelung treffen. Mit dem Alterseinkünftegesetz (AltEinkG), das am 1. Januar 2005 in Kraft trat, wurde daraufhin die nachgelagerte Besteuerung der Renten eingeführt. Weil die Zustimmung des Bundesrats zu Steuergesetzen erforderlich ist, kann man das missglückte Gesetz nicht nur der damaligen rotgrünen Bundestagsmehrheit in die Schuhe schieben. Auch die damalige CDU-FDP-Mehrheit im Bundesrat billigte das AltEinkG.
Dieses sieht vor, dass die Vorsorgebeiträge für die Altersversorgung, ob gesetzliche Rente, berufsständische Versorgungswerke oder freiwillige Beiträge, die während der Erwerbsphase eingezahlt werden, stufenweise bis zu Höchstbeträgen steuerfrei gestellt werden, dafür allerdings die späteren Rentenbezüge ebenfalls stufenweise zur Einkommensteuer herangezogen werden. Die Übergangsfristen hat der Gesetzgeber über viele Jahre gestreckt: von 2005 bis 2040. Erst ab 2025 sind die Altersvorsorgebeiträge voll steuerfrei gestellt. Ab 2040 sind dann die entsprechenden Rentenbezüge voll steuerpflichtig.
Die entscheidende Streitfrage beim AltEinkG kulminiert in der Frage, ob die gesetzliche Neuregelung nicht für immer mehr Rentner zu einer verfassungswidrigen Doppelbesteuerung geführt hat und in Zukunft erst recht führt. In seiner Entscheidung aus dem Jahr 2002 hat das BVerfG nämlich einen Satz platziert, auf den sich alle Kritiker der Übergangsregelung berufen: „In jedem Fall sind die Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Bezügen aus dem Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen so aufeinander abzustimmen, dass eine doppelte Besteuerung vermieden wird.“
Doppelbesteuerung nicht haltbar
Doch genau dieses Doppelbesteuerungsverbot wird nicht nur durch die kurze Frist von 15 Jahren zwischen der vollen Steuerfreistellung der Vorsorge beiträge ab 2025 und die volle Steuerpflicht der Rentenbezüge ab 2040 unter laufen. Denn Renteneinzahlungen leisten Erwerbstätige in der Regel über deutlich längere Zeiträume von 30, 40 und mehr Jahren. Viel entscheidender ist die deutliche Diskrepanz zwischen der steuerlichen Behandlung in der Einzahlungs- und der Auszahlungsphase. Deshalb werden Millionen von Erwerbstätigen, vor allem die nach 1970 geborenen Jahrgänge, beim Renteneintritt vom Staat doppelt abkassiert. Denn erhebliche Teile ihrer Renten werden vom Fiskus besteuert, obwohl sie Teile ihrer Beiträge aus den Jahren bis 2025 aus bereits voll versteuertem Einkommen erbracht haben.
Egmont Kulosa, Mitglied des im für Altersvorsorgefragen zuständigen 10. Senats des höchsten deutschen Finanzgerichts, dem Bundesfinanzhof (BFH), hat sich in einem juristischen Kommentar zum einschlägigen Paragrafen 10 des EStG bereits vor vier Jahren sehr eindeutig zur Doppelbesteuerung geäußert: Es „bedarf keiner komplizierten mathematischen Übungen, um bei Angehörigen der heute mittleren Generation, die um das Jahr 2040 in den Rentenbezug eintreten werden, eine Zweifachbesteuerung nachzuweisen, denn diese Personen werden ihre Rentenbezüge in vollem Umfang versteuern müssen, können ihre Beiträge aber nur 15 Jahre lang – von 2025 bis 2039, und auch dann nur bis zum Höchstbetrag des [Paragrafen 10] Abs. 3 [EStG] – ohne prozentuale Beschränkung abziehen. Die Verfassungswidrigkeit einer solchen doppelten Besteuerung, die vom Einzelnen angesichts der gesetzlichen Pflicht zur Leistung laufender Rentenversicherungsbeiträge nicht vermieden werden kann, erscheint evident.“ Aktuell äußert sich Kulosa nicht mehr, weil beim BFH zwei Musterverfahren anhängig sind, die genau diese Frage zum Streitgegenstand haben.
Ursprünglich waren Entscheidungen des obersten Finanzgerichts in dieser Sache für 2020 erwartet worden. Dann hieß es aus dem BFH auf Presseanfra- gen, im zweiten Quartal 2021 sei mit einer mündlichen Verhandlung zu rechnen, der nach rund drei Monaten eine Entscheidung folge. Doch Insider zeigen sich skeptisch, ob das Verfahren nicht weiter verschleppt wird. Welche Bedeutung das Bundesfinanzministerium (BMF) den vorliegenden Klagen einräumt, zeigt der ungewöhnliche Verfahrensbeitritt des Ministeriums im vergangenen Jahr, das von einem Ausnahmetatbestand Gebrauch machte und deshalb volle Akteneinsicht erhält. Im Juni des vergangenen Jahres lieferte das BMF dem BFH gleich auf 20 Seiten eine schlitzohrige Rechtfertigung, warum von einer Doppelbesteuerung gar keine Rede sein könne: Der allgemeine steuerliche Grundfreibetrag und andere Steuerfreibeträge führten dazu, dass es zu überhaupt keiner Doppelbesteuerung der Rentner komme.
Renommierte Finanzmathematiker wie Werner Siepe oder Klaus Schindler (siehe Seite 58) wiesen schon vor Jahren in Gutachten nach, dass die verbotene Doppelbesteuerung bereits auf heutige Rentner durchschlägt. Ein am 1. Januar 1954 geborener Standardrentner, der zeit seines Erwerbslebens immer genau den Durchschnittsverdienst erzielte (ein Entgeltpunkt pro Jahr), ging am 1. Januar 2019 nach 45 Versicherungsjahren abschlagsfrei in Rente. In seiner Versicherungsbiografie (vom 1. Januar 1974 bis zum 31. Dezember 2018) zahlte er insgesamt 210209 Euro in die Rentenkasse ein. 84 244 Euro davon leistete er aus bereits versteuertem Einkommen. Von seiner Jahresbruttorente, die er 2019 erstmals erhielt, sind 3866 Euro (22 Prozent) steuerfrei. Multipliziert mit der Restlebenserwartung von 17 Jahren, mit der nach den aktuellen Sterbetafeln gerechnet wird, beläuft sich sein steuerfreier Rentenzufluss auf (17-mal 3866) insgesamt 65 722 Euro. Damit werden 18 522 Euro (84 244 minus 65 722) zweimal der Steuerpflicht unterworfen. Bei einem Grenzsteuersatz von 20 Prozent bezahlt dieser Beispielrentner also insgesamt 3704 Euro zu viel Steuer.
In Summe stärker belastet ist ein gleichaltriger Versicherter, der während seines 40-jährigen Arbeitslebens (1979 bis 2018) immer den Höchstbeitrag in die Rentenversicherung zu bezahlen hatte. Von seiner Jahresbruttorente von 29399 Euro, die er im Jahr 2019 erstmals erhielt, sind 6467 Euro pro Jahr steuerfrei. In den 17 zukünftigen Lebensjahren, die laut Sterbetafel zugrunde gelegt werden, summiert sich der steuerfreie Betrag auf 109 939 Euro. Dem gegenüber steht eine Beitragszahlung von 391 077 Euro, von denen 152 276 Euro aus versteuertem Einkommen erbracht wurden. Aus der Differenz (152 276 minus 109 939) ergibt sich eine doppelt versteuerte Summe von 42332 Euro, für die dieser Rentner bei einem Grenzsteuersatz von 30 Prozent vom Fiskus mit 12 713 Euro ungerechtfertigt belastet wird.
Finanzverwaltung trickst
Wie diese beiden Beispiele belegen, geht es für den Staat um gewaltige Summen. Denn die Doppelbesteuerung wird in den kommenden 20 Jahren massiv wachsen, vor allem für die Millionen Facharbeiter der geburtenstarken Jahrgänge, die jetzt nach und nach aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Dem Fiskus drohen Milliardenausfälle, sollte der BFH oder abschließend das BVerfG im Sinne der Kläger entscheiden.
Betroffene sollten sich das nicht gefallen lassen und jetzt handeln. Hunderttausende Rentner haben bereits Einspruch gegen ihre Steuerbescheide eingelegt. Niemand sollte sich im Übrigen von den Standardantworten der Finanzämter einschüchtern lassen. Beim Bund der Steuerzahler ist ein Mustereinspruchsschreiben zu erhalten, ebenso bei verschiedenen Steuerkanzleien wie der Kanzlei Braun in Mannheim, die das nebenstehende Muster zur Verfügung gestellt hat: