Der letzte Rotkäppchensekt wurden in Thüringen wohl sehr spät getrunken. Die letzten Feengrotten – Bitter wohl schon kurz nach 18 Uhr. Die Thüringer haben gestern zwei Parteien gestärkt: die Linke und die AfD. Sie haben außerdem noch die FDP äußerst knapp wieder aus der politischen Versenkung geholt. Da knallten die Sektkorken. Die Parteien CDU, SPD und Grüne konnten sich nach ihren Verlusten hingegen nur noch einen kräftigen einheimischen Bitterlikör einschenken. Die Linke und die AfD erhielten insgesamt mehr Stimmen als die anderen vier Parteien CDU, SPD, Grüne und FDP zusammen. Da man davon ausgehen darf, dass die meisten Thüringer die Wahlkabinen nüchtern betreten haben, stellt sich nun die Frage, warum sie so entschieden. Aus westdeutscher Sicht wirkt das schon etwas irrational. Ist es aber nicht.
Die Brandenburger, die Sachsen und die Thüringer bestätigten alle ihre Regierungschefs. Die Erfahrenen sollen schon dran bleiben, aber die sollen eine andere Politik machen bzw. in Berlin erzwingen. Deren Koalitionen hingegen bestätigten sie nicht. Da gibt es jetzt in allen drei Ländern Neuland. Brandenburg hat sich zügig für Kenia entschieden. In Sachsen sind für die selbe Konstellation lange Verhandlungen angesetzt worden, denn dort entspricht sie nicht dem Wählerwillen. Allerdings wäre dem Westen Kenia vertraut und angenehm. In Thüringen wird man die Quadratur des Kreises schaffen müssen. Deshalb sprach Bodo Ramelow schon im Vorfeld von einer Minderheitenregierung. Das hätten sich manche Sachsen von Michael Kretschmer auch gewünscht.Vielleicht kommt das noch, wenn sich die Verhandlungen als sehr schwierig erweisen oder die SPD der GroKo noch vor Weihnachten in Berlin den Stecker zieht.
Altbundespräsident Gauck hat empfohlen, dass sich die Linke und die CDU in Thüringen einig werden sollen. Das setzte die CDU, die nun in der Tat zwischen Linke und AfD, zwischen Skylla und Charybdis ihren Weg neu wird erkämpfen müssen, einem großen Stresstest aus. Es hilft, sich vor Augen zu führen, dass die Linke im Osten Deutschlands ehemals eine staatstragende Partei war. Über den damaligen Staat gibt es demokratisch und ökonomisch viel zu sagen, aber Arbeiter genossen in ihm Respekt. Es war klar, wer das kleine Volksvermögen täglich neu schuf. In Thüringen hat die Linke daran erfolgreich angeknüpft. Sie ist dem Kurs Katja Kippings zur links-grünen Großstadtpartei nicht gefolgt – auch aus Ermangelung von Großstädten. Die Landeshauptstadt Erfurt hat etwas mehr als 200.000 Einwohner. Städte wie Leipzig oder Dresden in Sachsen mit mehr als einer halben Millionen Einwohner gibt es nicht. Und auch einen Speckgürtel wie den um Berlin, von dem Brandenburg profitiert, gibt es nicht. Thüringen ist klassisches Mitteldeutschland: klein, aber fein.
Im Ergebnis der Wahl in Thüringen wird am deutlichsten klar, was der Süden des Ostens schon begriffen hat und der Süden des Westen vielleicht noch wird lernen müssen: die Zeiten ändern sich gerade rasant – Heimat ist regional. Die eigene Bevölkerung erwartet mehr. Eine Stillstandskoalition wie die in Berlin, die seltsam aus der Zeit gefallen scheint, ist keine Option. Eine Hinwendung zu den Grünen, deren Politikansatz so wirkt, als habe Deutschland noch einmal auf die Schlummertaste gedrückt, um seinen Traum vom erwünschten Leben zu verlängern, bevor die Wirklichkeit wieder einmal brutal zuschlägt und der Arbeitstag ruft, ist hier keine Option. In den größeren und Großstädten finden sie ihre Latte-Macchiato-Milieus, aber es gibt insgesamt viel zu wenig Betuchte und Studenten, um daraus in der Regel zweistellige Ergebnisse zu machen. Wenn eine Bevölkerung Linke und AfD derart stark wählt, dann ist es ihr um die Tatsache zu tun, dass diese beiden Parteien am ehesten den Eindruck vermitteln, die Belange der einfachen Leute ernst zu nehmen. Die Wirklichkeit liegt im Jetzt und Hier. Das haben die Wähler in Thüringen der implodierten Mitte ins Stammbuch geschrieben.
Antje Hermenau ist Unternehmerin und Beauftragte des BVMW für den Landeswirtschaftssenat Sachsen.