Mit dem Aus für die Impfpflicht stürzen für einige Impfverfechter und Zero-Covid-Anhänger Welten zusammen. Die Klage: Nicht einmal für einen klitzekleinen Impfzwang für Senioren hat es gereicht. Zuletzt hatte das Koalitionsgeschacher wie eine Auktion mit steigenden Angeboten gewirkt: zuerst 18, dann 50, schließlich 60.
In der Presse, im Fernsehen und den sozialen Netzwerken herrscht eine Stimmung, die dem Katzenjammer nach der Wahl Donald Trumps 2016 gleicht. Die Reaktionen reichen von Verblüffung und Enttäuschung bis hin zu Wut, Hass und dem Wunsch nach Vergeltung im Herbst, wenn die Corona-Krise zurückkehrt.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärte Jasper von Altenbockum, es handele sich heute um einen „traurigen Tiefpunkt der Pandemie“. Eine Impfpflicht sei jedoch weiterhin richtig, da es „eine Mehrheit für die Impfpflicht im Bundestag gibt und das Risiko einer Herbstwelle mitsamt eines neuen Lockdowns zu groß ist“.
Die Süddeutsche Zeitung beschwerte sich erbittert über das Scheitern der Impfpflicht: Scholz habe es „versemmelt“ und sei „nach allen Regeln der Kunst“ gescheitert. Darin liegt nicht nur eine politische Abrechnung, sondern auch Frust über das fehlgeschlagene Wunschprojekt.
Deutlicher artikulierten sich Politik und Presse in den sozialen Medien. Schuldige hat man sofort ausgemacht: die FDP, aber vor allem die CDU. Die Grüne Jugend sagte: „Die Impfpflicht scheitert an parteitaktischen Überlegungen von CDU und CSU. Das ist schlicht verantwortungslos.“ Andreas Audretsch, Abgeordneter der Grünen, warf der Union vor, „gewissenlos“ zu sein, viele hätten jedoch Vorsorge zugunsten eines „populistischen Erfolges“ für Friedrich Merz verhindert, das sei „unwürdig“.
Die größte Entgleisung verantwortete der SPD-Abgeordnete Joe Weingarten. Er sagte: „Zum ersten Mal seit 1945 jubeln die Faschisten im Reichstag wieder. Dank der CDU. Ein Tiefpunkt des Parlaments.“ Kurz nach Verkündung der Abstimmungsergebnisse hatten AfD-Abgeordnete geklatscht und gefeiert.
Dabei ist die Angelegenheit nicht so einfach. Ohne Fraktionszwang kann kaum eine Partei grundsätzlich in Haftung genommen werden. So sprach sich Max Lucks, 24 Jahre alt, Abgeordneter für die Grünen aus Bochum, in seiner Rede gegen eine Impfpflicht aus – und damit gegen die Linie seiner Partei.
In Untergangsmanier prophezeiten Anhänger des Antrags, dass die Rechnung für dieses Verhalten viele noch teuer zu stehen komme. Insbesondere der Herbst wurde zur Zeit der Abrechnung hochstilisiert – allen voran von Karl Lauterbach. Der Gesundheitsminister twitterte: „Einziger Gesetzentwurf, der die allgemeine Impfpflicht gebracht hätte, ist gerade gescheitert. Es ist eine sehr wichtige Entscheidung, denn jetzt wird die Bekämpfung von Corona im Herbst viel schwerer werden. Es helfen keine politischen Schuldzuweisungen. Wir machen weiter.“
In ein ähnliches Horn tönte die jüngste Bundestagsabgeordnete des Parlaments, Emilia Fester. „Wir haben es nicht geschafft, eine politische Antwort auf die zerreißende Frage zu finden, die seit Monaten im Privaten ausgefochten werden muss. Wahrscheinlich erwartet uns ein weiterer Coronawinter“, sagte sie. „Das tut mir schrecklich leid. Ich habe es anders gewollt.“
Katharina Schulze nahm den Ball auf und verband dies mit dem Gedanken, warum wenigstens die Minimalforderung irgendeiner Impfpflicht nicht aufgenommen worden wäre. „Tja. Nicht mal eine Impfpflicht ab 60. Was für ein Armutszeugnis“, erklärte die Vorsitzende der Grünen im Bayerischen Landtag. „Der nächste Herbst kommt bestimmt und wir sind immer noch nicht gut vorbereitet.“ Ähnliches sagte Schahina Gambir, Bundestagsabgeordnete der Grünen. Es sei bitter, dass „nichtmals der kleinste Kompromiss“ eine Mehrheit gefunden habe, die Stimmung sei „Bedrückend“, nur nicht bei den Fraktionen (sic!) rechtsaußen.
Andere wurden grundsätzlicher. Emma Kohler, Mitglied der Grünen Jugend, FFF-Aktivistin und Social-Media-Managerin des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Ehrenlechner, schrieb: „Wer nein zur Impfpflicht sagt, sagt ja zum Lockdown und nein zur Freiheit.“ Die Linksjugend beschwor die Gefahr von „tausenden Toten“ bei der nächsten Herbstwelle. Anonyme User zeigten Särge mit FDP-Schrift, kritisierten einen „Durchseuchungszwang“ oder beklagten, sie würden von der Politik „mal wieder vor den Bus geschubst“. Ein anderer Nutzer schrieb, Kubicki habe nun mehr Verantwortung für die Corona-Toten als „alle anderen Querdenker zusammen“.
Auch die sich selbst so bezeichnende Satire-Sendung „heute-show“ machte mit einem Statement aufmerksam, das weniger kritisch, denn als Ausweis schlechten Verlierertums gelten muss: „Eil: Bundestag beschließt Verlängerung der Pandemie um zwei Wellen.“