Tichys Einblick
Die Erneuerung des Tabus

Franziska Giffey über Silvester-Randalierer: „Das sind doch fast alles Berliner Kinder“

Die Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) sagt, die Täter der Silvesternacht seien doch "fast alles Berliner Kinder". Damit trifft sie einen Punkt. Denn eigentlich sollte es in der Debatte weniger um Migration als um Kultur gehen.

IMAGO / Christian Spicker

Berlin hat eine bunte Einwanderungsgeschichte. Mit Folgen: In Reinickendorf spricht man auch gerne mal Französisch. In Schöneberg finden sich ganze Kolonien niederländischer Nachbarn zusammen. Und im Osten öffnen die größten vietnamesischen Märkte westlich des Mekongdeltas. Auf den berüchtigten Bildern aus der Silvesternacht sind aber nur wenige Täter südostasiatischen Phänotyps zu sehen. Zwar begeht schon einen Tabubruch, wer die Randale mit der Migration verbindet. Doch wer nur das tut, hält ein anderes Tabu aufrecht: der Islam als dominierende Religion in den Ländern, aus denen Menschen „westasiatischen Phänotyps“ kommen.

„Kinder des Koran“ ist ein Spiegel-Bestseller. Der Autor Constantin Schreiber beschreibt darin, was Kinder aus dem Iran, der Türkei oder aus Afghanistan in diesen Ländern im Geschichtsunterricht- oder im Religionsunterricht lernen – und wie sich das auf Deutschland auswirkt. Der gleiche Autor hat in seinem Buch „Inside Islam“ beschrieben, was Imame aus Ländern wie der Türkei freitags in deutschen Moscheen predigen – und dass es wenig mit dem Zusammenleben in einer urbanen Weltstadt zu tun hat und viel mit dem Gesellschaftsbild eines dörflichen Lebens. Archaisch im Weltbild. Hierarchisch und patriarchalisch in der Organisation. Auch „Inside Islam“ ist ein Spiegelbestseller. Die Erkenntnisse sind also durchaus ins woke Bildungsbürgertum vorgedrungen – auch wenn sich dessen Schäfchen beim Lesen solch verbotener Lektüre die Augen zuhalten.

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Wenn Franziska Giffey (SPD) nun sagt: „Das sind doch fast alles Berliner Kinder, die sind hier geboren und aufgewachsen“, dann treibt die Regierende Bürgermeisterin kein aufklärerischer Willen an. Im Gegenteil. Giffey will das Tabu erneuern und verhindern, dass im Zusammenhang mit der Silvesternacht weiter offen über migrantische Gewaltbereitschaft geredet wird, die in Wirklichkeit eine islamisch konnotierte Gewaltbereitschaft ist. Aus dem gleichen Grund fordert Giffey einen „Gipfel gegen Jugendgewalt“. Damit verfolgt Giffey das politische Konzept: „Wenn ich nicht mehr weiter weiß / gründ‘ ich einen Arbeitskreis / und will auch die Idee erlahmen / geb‘ ich ihr ’nen andren Namen.“

Doch auch wenn Giffey keine aufklärerische Absicht mit dem Zitat verfolgt, so erreicht die Bürgermeisterin ungewollt eben diesen aufklärerischen Effekt. Denn sie wirft einen Scheinwerfer auf einen Aspekt des gesamten Themenfelds, der bisher weitgehend im Dunklen steht: Das Gewaltpotential, das sich in der Silvesternacht seinen Weg gesucht hat, ist auch Teil eines Generationenkonflikts. Die mutmaßlichen Täter sind zu einem großen Teil tatsächlich Berliner Kinder, oft genug sogar in der Stadt geboren. 45 der 145 Festgenommenen sind nach Polizeiangaben deutsche Staatsangehörige. Aber sie sind unglücklich mit ihrer Heimat. Mit dieser Heimat.

Ihre Väter oder Großväter haben in den 70er oder 80er Jahren ein warmes, natürliches Land verlassen, um in den kalten Betonbunkern Deutschlands zu Wohlstand zu kommen. Ein schlechtes Geschäft, wie sich nun herausstellt. Seit damals hat es Deutschland dank ideologisch verbohrter Energie- und Wirtschaftspolitik geschafft, seinen Wohlstand in Frage zu stellen – zumindest für die kommenden Jahre. Wer möchte da den Nachkommen ihren Frust verdenken, die ein Familienhaus in Mersin gegen eine Butze mit 50 Quadratmetern in Neukölln getauscht haben.

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Nun kommt es oft genug vor, dass die Berliner Heimat diesen Kindern zu wenig das Gefühl schenkt, dazu zu gehören. Doch zumindest gibt das Land sich Mühe, ihre Heimat zu werden: Eine breite Mehrheit stellt sich vor den Berliner Jerome Boateng, wenn Alexander Gauland (AfD) behauptet, sie wollten den Fußballer nicht zum Nachbarn haben. Minister und Abgeordnete „westasiatischen Phänotyps“ sind mittlerweile keine Seltenheit mehr in Berlin. Das gilt auch für Models, Moderatoren oder Schauspieler. Zudem gibt sich das Land Gesetze, die Diskriminierung ausschließen sollen. Manch einer mag an den Ergebnissen dieser Bemühungen herumkritteln – aber dass es die Bemühungen gibt, kann eigentlich niemand leugnen, ohne rot zu werden. Oder grün.

Diese Mühe, das ist das nächste Tabu, das es zu brechen gilt: Diese Mühe geben sich islamische Einwanderer oder die Nachfahren islamischer Einwanderer oft genug nicht. Dass jemand seine Kultur pflegen will, ist ausdrücklich nicht das Problem. Es ist für das eigene Wohlempfinden richtig und wichtig, alle Aspekte wertzuschätzen, die zur eigenen Geschichte gehören. Die Pogues haben in „Thousands are sailing“ über irische Auswanderer (übersetzt) treffend gesungen: „Wo immer wir hingehen / feiern wir das Land, das uns zu Flüchtlingen macht.“

Doch schwierig wird es, wenn Einwanderer oder deren Nachkommen die Regeln der neuen Heimat nicht respektieren. Und ja: sich diesen Regeln nicht unterwerfen. Der Begriff mag grausam klingen. Aber das tun Herkunftsdeutsche oder Einwanderer lappländischen Phänotyps auch: Steuern zahlen, bei Rot an der Ampel stehen bleiben, den Müll in den Mülleimer werfen, auf Anordnungen der Polizei hören und Menschen oder Tiere nicht mit Böllern beschießen. All das ist eine Unterwerfung unter ein Regelsystem, ohne das Freiheit nicht möglich, sondern Anarchie die Konsequenz wäre – in der sich dann der Stärkere willkürlich gegen den Schwächeren durchsetzt.

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Doch da wird es zum Problem, was Constantin Schreiber aus deutschen Moscheen berichtet: Wenn Imame zum Beispiel aus der Türkei einreisen und ihren Berliner Schutzbefohlenen erzählen, dass sie als Moslems auch den Auftrag zur Mission hätten und derjenige weniger wert sei, der die Missionierung nicht annehme. Diese Botschaft birgt mehr Sprengstoff in sich als eine Million Silvester-Raketen. Und sie ist verlockend für die Kinder, die in Berlin im Pallasseum groß werden, in der Sonnenallee oder in Steglitz. Es ist natürlich, dass junge Menschen nach Selbstwertgefühl streben. Doch das ist nicht einfach, wenn sie mit neun Mann auf 50 Quadratmetern groß werden und auch keine Perspektive besitzen, jemals mehr als 3000 Euro im Monat zu verdienen.

Da kommt die Botschaft, man sei wegen irgendetwas anderem überlegen, gerade recht. Und sei es die Religion. Zudem passt das Gefühl, eigentlich überlegen zu sein, mit den Alltagsbeobachtungen der Berliner Kinder durchaus zusammen: Weicht der Lauch von Finn Thorben nicht ängstlich aus, wenn er einem auf dem Gehweg entgegen kommt? Sind die deutschen Soja-Sörens nicht mit 22 Jahren noch so rückständig, dass ihre Mutter zur Universität fährt, um dort für das Schätzchen dessen Konflikte auszutragen? Während die älteren Bruder der Randalierer im gleichen Alter schon verheiratet sind und das zweite oder dritte Kind bekommen.

Jeder Mensch hat den Wunsch, sich einem anderen überlegen zu fühlen. Und sei es, weil er eine Stoffmaske länger, öfters und fanatischer trägt als ein anderer. Wer nichts hat, auf das er stolz sein kann, der sucht sich etwas. In den Interviews nach der Silvesternacht waren junge Menschen zu hören, die sagten, sie hätten die Polizei und die Feuerwehr beschossen, weil diese ihre (brennenden) Barrikaden beseitigen wollten. Das sei aber ihr Kiez und ihre Barrikade gewesen, deswegen hätten sie das nicht zulassen wollen. Ein archaisches Weltbild. Ein patriarchalisches Weltbild: Hier regiere ich, hier regieren wir, nicht das Gesetz. Weil wir die Stärkeren sind. Weil wir uns durchsetzen können. Wenn schon nicht in der Welt, dann doch wenigstens in unserem Kiez. So gesehen sind es tatsächlich Berliner Kinder. Allerdings einer sehr kleinen, sehr überschaubaren Perspektive verhaftet.

Wie lässt sich das lösen? Auf lange Sicht, indem sich die Heimat weiter Mühe gibt, jedem ein Dazugehörigkeitsgefühl zu schenken. Aber wenn einer nicht dazu gehören will, sich abgrenzt, sich ausschließt und das dann noch in dem Gefühl, anderen überlegen zu sein, dann wird es nicht funktionieren – dann kann es nicht funktionieren. Dass eine nennenswerte Menge an Menschen in Deutschland lebt, die sich nicht zugehörig fühlt, auch weil sie nicht bereit ist, sich zugehörig zu fühlen, ist gesellschaftlicher Sprengstoff. Wie explosiv der ist, hat sich an Silvester gezeigt.

Doch auf die langfristige Lösung zu warten, ist zu wenig. Es braucht auch kurzfristige Lösungen. Wenn jemand meint, Polizei und Feuerwehr angreifen zu können, weil er der Stärkere sei, dann muss der Staat hinter diesen Rettungskräften zeigen, dass diese Vorstellung nicht stimmt. Dass der Staat der Stärkere ist – und entsprechend durchgreift.


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