Berlin. Der Ökonom Bernd Raffelhüschen sieht den deutschen Sozialstaat finanziell an seinen Grenzen angelangt. Die auch in der Coronakrise weiter gestiegenen Rentenansprüche und die stark gestiegene Staatsverschuldung mache eine grundlegende Reform der Sozialsysteme unausweichlich, so Raffelhüschen im Gespräch mit dem Monatsmagazin Tichys Einblick. „An einer Totalrevision des Sozialstaats kommen wir in der nächsten Legislaturperiode nicht vorbei“, so der Ökonom. „Die versteckten Staatsschulden durch die Coronakrise lassen die implizite Verschuldung auf neue Rekordstände explodieren. Die gesamte Nachhaltigkeitslücke, also die Hypothek zulasten unserer zukünftigen Beitrags- und Steuerzahler, liegt jetzt bei mehr als 300 Prozent des BIP. Jeder Bürger hat durch die Coronakrise rechnerisch ein komplettes Jahresgehalt verloren.“
Während die Einkommen durch Kurzarbeit und zunehmende Arbeitslosigkeit fallen, hätten die Rentner Einkommenszuwächse. „Deshalb hat die Coronakrise einen paradoxen Effekt auf das Rentenniveau des Durchschnittsrentners. Es steigt von heute gut 48 Prozent auf über 50 Prozent gegenüber dem Durchschnittslohn im kommenden Jahr.“ Grund seien zwei Entscheidungen von SPD-Arbeitsministern. So führte der heutige Finanzminister Olaf Scholz 2007 eine Schutzklausel ein, die ein Absinken der Renten auch dann verhindert, wenn die Löhne sinken. Allerdings sollten diese nicht berechneten Abschläge mit späteren Rentenerhöhungen verrechnet werden. Das jedoch hat Arbeitsminister Hubertus Heil gekippt. Die Folge: Die Renten steigen auch in der Coronakrise weiter. „In der Tat scheinen wir eine Politikerkaste zu haben, die so abgehoben von der jungen Bevölkerung agiert, dass sie den alten Wählergruppen nicht anschaulich kommunizieren kann, dass die Wertschöpfung einer Volkswirtschaft durch die aktive Generation stattfindet. Erst dann kann verteilt werden. Wer die Jungen überfordert, kann auch die Alten nicht mehr bedienen.“