Burkhard Hirsch sieht seine FDP auf gutem Wege. Gerhart Baum wird ihm zustimmen. „Dem FDP-Niedergang“, folgt für Ulf Poschardt „die liberale Renaissance“. Dafür nimmt er auch den Herausgeber dieses Portals in Anspruch: „Die FDP sieht Tichy prinzipiell auf einem guten Weg, aber sie müsse weiter ihr Profil schärfen. ‚An die Regierung kommt man nicht, wenn man spricht wie ein heimlicher Koalitionspartner oder Reserveminister.'“
Das will auch Hirsch nicht: „Eine Koalitionsaussage vor der Wahl halte ich für falsch. Herr Lindner hat zu Recht erklärt, dass die FDP aufhören muss, eine Funktionspartei zu sein.“ Lindners Satz, dass der FDP die CDU von allen sozialdemokratischen Parteien am nächsten steht, ist amüsant formuliert, bleibt aber gefährlich nahe daran, sich nicht selbst zu positionieren, sondern in Relation zu anderen.
Christian Lindner zitiert Poschardt: „Wir biedern uns keinem Koalitionspartner mehr an.“ Die Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz und die Kenia-Koalition in Sachsen-Anhalt sind nicht per se Gegenbeweise. Doch die FDP ist schneller wieder Regierungspartei als öffentlich unverwechselbar in ihrer Positionierung als eigenständige Kraft. Es ist bald 15 Jahre her, dass Hermann Otto Solms mir erklärte, warum er nicht mehr für den Bundestag kandidieren will. Das ist natürlich kein Grund, um 2017 nicht erneut anzutreten. Ich bin ja auch nicht dabei geblieben, nichts mehr über die FDP zu schreiben. Was auffällt: Mehr alte als neue Namen prägen das Medienbild der Freien Demokraten.
Der heute beendete Bundesparteitag der FDP in Berlin fordert, die Chancen der Digitalisierung für die Zukunft der Arbeitswelt zu nutzen und flächendeckend für schnelle Internetverbindungen zu sorgen: Digitalisierung als Instrument, um individuelle Freiheit zu fördern. Severin Weiland lobt die Freien Demokraten auf SPON: „‚German Mut‘ gegen ‚German Angst‘, so lautet auch auf dem digitalen Feld das Schlagwort der Lindner-FDP. Sie hat dabei eines jedoch nicht vergessen – die Zukunft birgt auch ihre Risiken. Eine Kernforderung vom Wochenende lautete: ‚Die Souveränität des Einzelnen über seine Daten muss wieder hergestellt werden.‘ Die Hinwendung zum Digitalen ermöglicht den Liberalen auch die Chance, in das Netz-Bürgertum des 21. Jahrhunderts hineinzuwirken, in jene städtischen Milieus, die der Digitalisierung aufgeschlossen gegenüber stehen und die dennoch die damit zusammenhängenden Gefährdungen nicht übersehen. Die FDP kann den neuen digitalen Mittelstand erreichen – wenn sie ihnen Konzepte anbietet. Dass zwei frühere führende (und der Sache, nicht dem Krawall verpflichtete) Piratenpolitiker – Bernd Schlömer und Sebastian Nerz – vor geraumer Zeit zur FDP gefunden haben, stärkt das Profil der Partei.“
Lindner setzt ein ehrgeiziges Ziel, bei der Bundestagswahl größer zu werden als die AfD. Geht es mit der AfD weiter wie bisher, braucht Lindner dafür das Westerwelle-Ergebnis von 2009 (14,6%). Nichts ist unmöglich gilt nicht nur bei Toyota. Lindner und die Seinen dürften jedoch wissen, dass der Wiederaufstieg der FDP nicht nur in die Zone der Umfrage-, sondern auch Wahlergebnisse über der Fünf-Prozent-Hürde (Hamburg, Bremen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz) keine sichere Bank ist. Ihm und den Seinen wird auch der AfD-Effekt klar sein. Die AfD ist zurzeit der Katalysator tiefer Veränderungen im Pateiensystem. Wie die FPÖ gegenüber der SPÖ ist die AfD dabei, SPD (und der Linkspartei) deren Platz als Kleinbürger- und Arbeiterparteien wegzunehmen. Zugleich treibt die AfD Wähler, die auf der Flucht vor den Unionsparteien sind, sich aber der AfD nicht zuwenden können oder wollen, in die Arme der FDP.
Lindner und seine Leute sind gut beraten, dem plötzlichen Frieden nicht zu trauen, dass plötzlich Medien für sie schreiben, welche die FDP bereits abgeschrieben hatten, nachdem sie die Partei davor mit Hass verfolgten. Noch kann von Renaissance keine Rede sein. Die Chancen sind zweifelsohne da. Ob die FDP Lindner erlaubt, sie zu nutzen, ob Lindner und die Seinen sie nutzen, werden wir sehen, entscheidet sich aber eher erst nach der Bundestagswahl als vorher.
Zwei Lager stehen sich in Deutschland und ganz Europa unversöhnlich gegenüber: die des politisch-kulturellen Laissez-Faire der Beliebigkeits-Gesellschaft mit staatlich garantierter Rundum-Versorgung auf immer niedrigerem Niveau und die wenig sichtbaren Kräfte von Freiheit und Selbstverantwortung. Der ganze Westen steckt in seiner bisher tiefsten Krise. Die Chancen dieser Krise gehören den Freunden der Freiheit. Einen unangefochtenen politischen Arm haben sie bisher im deutschen Parteiensystem nicht – anderswo in Europa ebenfalls nicht.
Nicht nur das Parteiengefüge, sondern das System politische Parteien selbst befindet sich erst am Beginn eines Häutungsprozesses. Demokratie muss in Europa an vielen Stellen ergänzt werden, soll sie die Stürme der Zeit bestehen.