Betrachtet man im Internet die Demoskopie – also die aktuellen Ergebnisse der verschiedenen Umfrageinstitute – zu der Frage, welche Parteien die Deutschen bevorzugen würden, falls am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, fällt gegenüber den Ergebnissen der Bundestagswahl vom September 2017 einiges auf:
- Union wie SPD haben an Zustimmung weiter verloren, die SPD mit – je nach Umfrageinstitut – aktuell 15 bis 18 Prozent (2017: 20,5 Prozent) deutlich mehr als CDU/CSU mit aktuell 30 bis 31 Prozent (2017: 32,9 Prozent).
- Erkennbare Verluste erleidet auch die FDP mit 8,5 bis 9 Prozent (2017: 10,7 Prozent).
- Weitgehend stabil bleiben hingegen die AfD mit 12 bis 14 Prozent (2017: 12,6 Prozent) und die Linke mit 8,5 bis 9 Prozent (2017: 9,2 Prozent).
- Großer Gewinner sind die Grünen mit aktuell 17 bis 20 Prozent (2017: 8,9 Prozent).
Diese Zahlen verdeutlichen: die von den ehemaligen großen Volksparteien in den letzten Monaten gestarteten Versuche, durch stärkere Profilierung nach „rechts“ bzw. nach „links“ die Abwanderung von Teilen ihrer früheren Wähler in Richtung der kleineren Parteien zu stoppen und diese Wähler erneut an sich zu binden, sind bislang ohne die gewünschte Wirkung geblieben. Die Abgewanderten trauen den Versprechungen ihrer früheren Parteien, sich nun wieder entschieden für ihre „rechten“ bzw. „linken“ Interessen und Belange einzusetzen, offenkundig nicht und demonstrieren ihnen dies durch anhaltenden Vertrauensentzug, vorerst noch per Umfrage. In den jeweiligen Parteizentralen dürften die Köpfe über der Frage rauchen, warum die Wähler so undankbar sind und die Ansätze ihrer Wahlstrategen für eine programmatische Erneuerung nicht gebührend belohnen.
Die Union ist langfristig erfolglos
Offenbar verfügen viele Wähler über ein feines Gespür für die strukturellen, nicht einfach umkehrbaren Veränderungen, die sich im bestehenden Parteiensystem seit Jahren vollzogen haben. So hat sich die Union unter Angela Merkel nicht erst seit gestern, sondern spätestens seit 2005 von ihrem ehemals liberal-konservativen Markenkern schrittweise gelöst und sich sozialdemokratischen wie auch grünen politischen Inhalten und Forderungen zugewandt. Merkel wollte so einen Trend stoppen und umdrehen, der die Union schon 1998 mit 35,1 Prozent sowie 2002 mit 38,5 Prozent und 2005 mit 35,2 Prozent unter ihre früheren Ergebnisse von deutlich über 40 Prozent fallen ließ.
Mit der von ihr eingeleiteten „Modernisierung“ der CDU einher ging die Erschließung ehemals sozialdemokratischer und grüner Wählerschichten. Sie bescherte der Union 2009 zwar auch nur ein Wahlergebnis von 33,8 Prozent, im Jahr 2013 dann aber von 41,5 Prozent. Das Konzept, durch die Übernahme links-grüner zulasten liberal-konservativer Inhalte wieder dauerhaft Volkspartei-Ergebnisse zu erreichen, schien sich zu bewähren. Die Vollstreckerin dieses Konzepts war auf dem Gipfel ihrer innerparteilichen Macht angekommen und wurde dadurch unangreifbar. Die CDU mutierte gleichzeitig zu einer Catch-all-Partei ohne klares inhaltliches Profil, dafür aber mit dem erklärten Willen, zur Verwirklichung ihrer politischen Ziele nicht mehr nur mit der FDP, sondern auch mit der SPD oder den Grünen Regierungskoalitionen zu bilden.
Diese Entwicklung prägte notgedrungen auch zunehmend die politisch-ideologische Ausrichtung der Mitglieder und Funktionäre der CDU. Sie vertreten heute, wie man zum Beispiel an Armin Laschet oder Daniel Günther unschwer erkennen kann, nicht mehr mehrheitlich eine liberal-konservative Weltsicht. Deren Anhänger, wie zum Beispiel Wolfgang Bosbach, sind unter Merkel zunehmend in die Defensive und erkennbar in die Minderheit geraten. Der Charakter der Partei hat sich damit im Laufe der Jahre nachhaltig so sehr geändert, dass mit einer Rückkehr zu ihrem früheren liberal-konservativen Markenkern kaum mehr zu rechnen ist. Die Uhren lassen sich auch bei Parteien nicht einfach zurückstellen, wenn plötzlich sichtbar wird, dass eingetretene Veränderungen Wirkungen entfalten, die für einen Teil ihrer Anhänger mehr Nachteile als Vorteile haben.
Adenauer-Land ist abgebrannt
Das wissen viele ehemalige Unions-Wähler, die so ihre frühere politische Heimat wohl auf Dauer als verloren betrachten. Sie sympathisieren deswegen zwar durchaus mit den inzwischen wieder etwas lauter und vielleicht auch einflußreicher gewordenen liberal-konservativen Kräften in der Union. Gleichzeitig fragen sie sich aber, ob deren Einflussgewinn in der Partei nicht vor allem dem Umstand geschuldet ist, dass sie liberal-konservative Wähler an AfD und FDP verloren hat und was passieren würde, wenn diese wieder zur Union zurückkehren würden. Möglicherweise würde die CDU bei der nächsten Bundestagswahl so viele Stimmen erhalten, dass sie eine schwarz-grüne Koalition im Bund eingehen könnte. Weite Teile ihrer Mitglieder und Funktionäre sowie die neue Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sind dazu erklärtermaßen bereit. Der laue politische Frühling der liberal-konservativen Kräfte in der Union wäre dann in Regierung und Parlament schnell verflogen.
Die im Laufe der Jahre entstandene „Repräsentationslücke“ in der CDU für liberal-konservative Wähler und ihr damit entstandener Vertrauensverlust in breiten Wählerschichten lassen sich durch eine zaghafte Profilierung nach „rechts“ nicht aus der Welt schaffen, wenn zum einen ein Großteil der Parteifunktionäre dies gar nicht wünscht und zum zweiten klar ist, dass jede Stimme für die Union die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie mit Kräften eine Zweier-Koalition bilden wird, deren gesamte politische Ideologie sich gegen „rechts“ richtet. Viele ehemalige Unionswähler votieren daher weiterhin für die AfD, obwohl diese Partei in mancher Hinsicht nicht nach ihrem Geschmack ist und obwohl die neue CDU-Vorsitzende sie mit einigen konservativen Angeboten etwa in der Asyl- und Migrationspolitik oder der EU-Politik zu einer Rückkehr lockt.
SPD noch näher am Abgrund
Ähnliches gilt für die sozialpolitischen Rückkehr-Angebote, die die SPD-Führung inzwischen lautstark an abtrünnige Wähler aus den unteren und mittleren gesellschaftlichen Schichten sendet. Auch die Sozialdemokratie hat seit Jahren einen politisch-ideologischen Strukturwandel vollzogen, der aus einer ehemaligen (Arbeiter-)Partei der „kleinen Leute“ eine Partei entstehen ließ, deren Mitglieder und Funktionäre sich zunehmend aus einer sozial aufgestiegenen, akademisch geprägten „neuen Bourgeoisie“ rekrutieren. Ihrem ideologischen Selbstverständnis nach verfolgt sie neben einem sozialpolitischen Paternalismus vorrangig eine Politik der Weltoffenheit sowie der identitären Abgrenzung und Gleichstellung verschiedenster gesellschaftlicher Opfer-Gruppen (Frauen, Homosexuelle, Migranten …), die sich weitgehend mit den politischen Zielen und Inhalten der Grünen deckt, mit denen sie deswegen auch um dieselben neu-bourgeoisen Wähler konkurriert.
Auch die SPD hat auf diese Weise ihren früheren Charakter grundlegend geändert und eine „Repräsentationslücke“ für ihre ehemaligen (Stamm-)Wähler aus der traditionellen Arbeitnehmerschaft geschaffen. Sie sind, trotz anhaltender sozialdemokratischer Arbeitnehmer-Rhetorik, allmählich ins Abseits geraten und inzwischen zu anderen Parteien oder ins Lager der Nicht-Wähler abgewandert. Von dort werden sie aller Voraussicht auch dann nicht zur SPD zurückkehren, wenn die Parteiführung den „Kleinen Leuten“ noch mehr den sozialpolitischen Himmel auf Erden verspricht, als sie es ohnehin schon tut. Wie die abtrünnig gewordenen liberal-konservativen Wähler der Union wissen auch die abtrünnigen sozialdemokratischen Wähler der SPD, dass die Partei, die sie über Jahre oder gar Jahrzehnte als ihre politische Heimat betrachtet und gewählt haben, inzwischen eine andere Partei geworden ist, die weder vorrangig ihre Interessen vertritt noch ihre Weltsicht teilt. Sie misstrauen daher aus guten Gründen dem von der Parteiführung lautstark angekündigten sozialdemokratischen Revival.
Hinzu kommt, dass die SPD im Bund jegliche Aussicht auf eine rot-grüne oder eine rot-rot-grüne Koalition verloren hat und deswegen nur noch als Junior-Partner der Union (mit-)regieren kann. Abtrünnige ehemalige SPD-Wähler wissen daher, dass die SPD sozialpolitisch zwar viel versprechen, davon aber angesichts der von der Union angekündigten Schärfung ihres „rechten“ Profils noch weniger als bisher halten kann. Da liegt es doch nahe, weiterhin jenen Parteien eine Stimme zu geben, die in Gestalt der Linken und der AfD mit ihrer bloßen Existenz der SPD immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie die Interessen der „Kleinen Leute“ nicht komplett aus ihrer Programmatik streichen sollte.
Tu felix Austria …
Die wechselseitigen Profilierungsversuche von Union und SPD in Richtung ihrer verloren gegangenen (Stamm-)Wähler bewirken vor diesem Hintergrund wahrscheinlich das Gegenteil von dem, was sie bewirken sollen. Sie werden von ihnen als PR-Aktionen ins Straucheln geratener ehemaliger Volksparteien wahrgenommen, die jede für sich weder willens noch in der Lage ist, ihre Interessen und Anliegen mit so viel Nachdruck zu vertreten, dass es sich lohnen würde, sie dafür zu wählen. Profiteure dieser Entwicklung sind neben der AfD und der Linken derzeit vor allem die Grünen. Hinter sie scharen sich neben ihren bisherigen (Stamm-)Wählern zunehmend auch all jene Wähler von Union und SPD, die angesichts des Erstarkens „rechter“ Parteien innerhalb der EU fürchten, die Bundesrepublik entwickle sich aufgrund der Wahlerfolge der AfD und mancher Ankündigungen der Union migrations-, klima- und europapolitisch ebenfalls nach „rechts“ und die SPD habe dem nichts entgegenzusetzen.
Der Albtraum der vereinigten Linken ist eine national-konservative Koalition aus Union und AfD nach dem Vorbild Österreichs. Sie würde die politische und ideologische Landschaft in Deutschland grundlegend verändern und der einst von Helmut Kohl gegen „links“ propagierten, aber nicht vollzogenen „geistig-moralischen Wende“ den Weg bereiten. Nicht zuletzt deswegen wollen die neuen Vorsitzenden der Grünen, Robert Habeck und Annalena Baerbock, ihre Partei unbedingt in eine Koalition mit der Union führen. Die Braut wäre für andere Ehemänner dann schon vergeben.