Es gab mal eine Zeit in Deutschland, als die politische und gesellschaftliche Linke sich der Meinungs- und Redefreiheit verpflichtet fühlte. Die Älteren werden sich erinnern. (Leider wohl nur die Älteren, was ein wichtiger Teil des Problems ist, aber das gehört in einen anderen Text.)
Kurz vor einer Bundestagswahl, im Dezember 1982, lief in der ARD eine Ausgabe des dezidiert und ausschließlich linken politischen Kabaretts „Scheibenwischer“. Die Folge wurde legendär, sie gilt als die wohl beste der ganzen Sendereihe – nicht zuletzt wegen des Auftritts des dezidiert und ausschließlich linken politischen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch.
Er sang damals:
„Wer anders denkt, gehört verboten.
Dem machen wir den Laden einfach dicht.
Dem zeigen wir, was Meinungsfreiheit ist:
Nämlich, dass er die eigene Meinung schnell vergisst.“
(Hanns Dieter Hüsch: „Ihr ehrenwerten Herren“, 1982)
Tempora mutantur, die Zeiten ändern sich. Die Linke von heute kommt mittlerweile fast nur noch im Aggregatzustand der Grün-Linken vor, bildet aber fraglos den Mainstream. Mit Meinungs- und Redefreiheit kann sie nur insofern noch etwas anfangen, als dass es sich dabei um ein politisches Betätigungsfeld handelt, das ihr reichlich Gelegenheiten bietet für:
- Gelegenheiten zum Ausleben der eigenen düsteren autoritären Neigungen;
- Gelegenheiten zur Befriedigung des eigenen pathologischen Bedürfnisses nach moralischer Überlegenheit; kurz:
- Gelegenheiten, sich selbst nicht mit anderen als den eigenen Lebensentwürfen befassen zu müssen.
Es ist ein im Wortsinn kindischer (und gleichzeitig elitär-arroganter) grün-linker Unwille, sich mit anderen als den eigenen grün-linken Weltanschauungen überhaupt nur zu befassen. Diesem Unwillen folgend hat dieser Mainstream sein eigenes begrenztes Lebensgefühl nicht nur zu einem schützenswerten Biotop erklärt – sondern zum EINZIG schützenswerten Biotop, das von ALLEN anderen Ideen bedroht wird.
Folgerichtig wurde um das eigene Lebensgefühl herum der Schutzzaun der Politischen Korrektheit errichtet. Alles, was draußen ist, gehört nicht dazu und soll draußen bleiben, damit man sich nicht damit auseinandersetzen muss. Dieses Konzept beschreibt zwar so ziemlich das Gegenteil einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft – aber nun gut, wir sind im 21. Jahrhundert, und im Entwurf zum Wahlprogramm von Bündnis‘90/Grünen kommt das Wort „Transformation“ sicher nicht umsonst 41-mal vor.
Der politisch korrekte Schutzzaun um die grün-linke Wohlfühlblase hat allerdings einige Konstruktionsmängel. Zum einen ist er unsichtbar – oder besser: Er ist nur von außen sichtbar. Man kann also vorher nie genau wissen, ob man sich noch innerhalb des grün-linken Milieuschutzgebiets befindet. Erst, wenn man draußen ist, merkt man, dass man draußen ist. Und dann hat man ein Problem.
Fritz Esser, zum Beispiel, war sein Leben lang ein angesehener Journalist und PR-Experte mit untadeliger Vita. Als er Pressesprecher beim Fußballverein 1. FC Köln werden sollte, gruben ein paar sogenannte Fans alte Tweets von Esser aus und konstruierten daraus eine angebliche Nähe zu rechtsradikalem Gedankengut – ein schlechter Witz für jeden, der den durch und durch toleranten und weltoffenen Esser etwas besser kennt.
Die Vorwürfe waren bizarr und absurd – allerdings nicht halb so bizarr und absurd wie die Reaktion des Vereins. Vorstandschef Werner Wolf gab zwar eine persönliche Ehrenerklärung für den Betroffenen ab:
„Wir haben Herrn Esser als integren Menschen mit demokratischem Wertegerüst kennengelernt.“
(1. FC Köln – Erklärung vom 03. Februar 2021)
Doch Papier ist bekanntlich geduldig, und manche reden eben gerne und viel, wenn der Tag lang ist. Nach den blumigen Worten gab der Klub die Pläne für eine Zusammenarbeit mit dem Journalisten sehr schmucklos auf. Die Kölner Vereinsführung zeigte hier ungefähr genauso viel Charakter wie die völlig zurecht akut abstiegsbedrohte Bundesligamannschaft.
Helau, Alaaf, Narhalla-Marsch.
Der grün-linke Gesinnungszaun der Politischen Korrektheit ist nicht nur von innen unsichtbar, er wird – zweitens – auch ständig verschoben. Jörg Dahlmann, Fußballkommentator beim TV-Sender Sky, bezeichnete während eines Spiels Japan als „Land der Sushis“ – und sah sich plötzlich dem Vorwurf ausgesetzt, er sei ein Rassist, denn er habe Japaner als Sushis bezeichnet.
Das ist so weit hergeholt, dass man sich schon Sorgen um die geistige Gesundheit derer machen kann, die solche Vorwürfe ernsthaft erheben. Entsprechend wies Dahlmann völlig zurecht darauf hin, dass er noch nie jemanden kennen gelernt habe, der nur ein Sushi isst (ich übrigens auch nicht – Sie vielleicht?). Und dass er nicht das Gericht, sondern die Menschen gemeint habe, sei eine durch nichts gerechtfertigte böswillige Unterstellung und eigentlich üble Nachrede.
Simple Aussagenlogik und gesunder Menschenverstand helfen heutzutage aber nicht. Sky beendete die Zusammenarbeit mit Dahlmann.
Politische Korrektheit ist, drittens, kein formales Konzept, sondern ein ideologisches. Um im Bild zu bleiben: Der Zaun gilt nicht für alle.
Ungarns Nationaltorwart Peter Gulasci, bei RB Leipzig unter Vertrag, kritisierte bei Facebook ein mit großer parlamentarischer Mehrheit in seinem Heimatland beschlossenes Gesetz, das homosexuelle Paare von Adoptionen ausschließt. So weit, so gut.
In einem Interview mit einer regierungsnahen ungarischen Zeitung erklärte der ungarische Torwarttrainer von Hertha BSC, Zsolt Petry, dass natürlich jeder seine Meinung frei äußern dürfe. Fußballspieler seien mit Äußerungen zu politischen Themen aber häufig Anfeindungen ausgesetzt, die ihre Karriere schädigen oder beenden könnten. Er wisse nicht, warum Gulasci seinen Facebook-Post trotzdem gemacht habe.
Ab da war nichts mehr gut.
Die üblichen Berufsverleumder in den Asozialen Medien drehten frei: Petry sei homophob und untragbar. Die Berliner Vereinsführung bemühte sich redlich, ähnlich schäbig zu sein wie die Kölner. In ein und derselben Erklärung (!) schrieb Geschäftsführer Carsten Schmidt erst:
„Die Arbeit von Zsolt Petry wurde in seinen Jahren bei Hertha BSC immer sehr geschätzt. Ebenso erlebte man ihn stets offen, tolerant und hilfsbereit. Er hat zu keiner Zeit homophob oder fremdenfeindlich agiert.“
(Hertha BSC – Erklärung vom 06. April 2021)
Um dann einen Satz später zu verkünden, man habe Petry gefeuert.
Wie erratisch und völlig unkalkulierbar der Zaun der Politischen Korrektheit immer weiter nach innen verschoben wird, hat jüngst auch Eishockey-Nationaltorwart Thomas Greiss erlebt. Der Deutsche steht in der nordamerikanischen Profiliga NHL beim Top-Klub Detroit Red Wings unter Vertrag.
Als der Radiomoderator Rush Limbaugh einem Krebsleiden erlag, postete Greiss bei Instagram ein Kondolenzbild mit dem Hashtag #RIP („rest in peace“, zu Deutsch: Ruhe in Frieden) als alleinigem Text. Mehr nicht.
Der Sportdirektor des Deutschen Eishockey-Bundes DEB, Christian Künast, warf den zweifellos besten deutschen Torwart deshalb nun aus der Nationalmannschaft. Für immer.
Limbaugh war ein beinharter Konservativer, keine Frage. Aber er war auch Träger des höchsten zivilen Ordens der USA, der Presidential Medal of Freedom. Wer um einen sehr populären und enorm erfolgreichen Radiomoderator sowie hochdekorierten Staatsbürger der USA öffentlich trauert, darf also nicht mehr für Deutschland Eishockey spielen?
DEB-Mann Künast offenbarte in dem Zusammenhang dann ganz offen eine tendenziell doch recht eklige Vorstellung von Demokratie:
„Jeder darf seine Meinung frei äußern. Aber ob wir jemanden einladen oder nicht, das ist dann unsere Sache.“
(Christian Künast, DEB-Sportdirektor – Deutschlandfunk, 11. Mai 2021)
Die Verantwortlichen in Köln beim FC, in Unterföhring bei Sky, in Berlin bei der Hertha und in München beim DEB hätten mit ihrem Rückgrat und ihrem Freiheitsverständnis vor etwa 85 Jahren sicher auch schon eine blendende Karriere gemacht.
Doch die vielleicht wichtigste bauliche Eigenart des grün-linken Schutzzauns der Politischen Korrektheit besteht darin, dass das Ding nur semi-permeabel ist: durchlässig nur von einer Seite. Wer einmal das Mainstream-Biotop verlassen hat und draußen steht, kommt nie wieder zurück.
Ex-Nationaltorwart Jens Lehmann, heute Mitglied des Aufsichtsrats von Hertha BSC, schickte an den Ex-Fußballer Denis Aogo eine Nachricht, in der er fragte, ob Aogo – nunmehr Experte für Sky – dort der „Quoten-Schwarze“ sei.
Das kann man für geschmacklos halten. Lehmann entschuldigte sich deshalb sowohl persönlich wie öffentlich bei Aogo, und der nahm die Entschuldigung öffentlich auch an. In einer Welt von Erwachsenen, in der Rationalität dominiert und nicht Hysterie, in der es um die Wirklichkeit geht und nicht um Traumwelten – in einer solchen Welt wäre die Sache damit zweifellos und auch völlig zurecht erledigt.
Doch wir leben nicht in einer solchen Welt. Hertha hat Lehmann aus dem Aufsichtsrat gefeuert, und TV-Sender beeilen sich zu erklären, ihn niemals wieder als Experten einzuladen.
Denn Entschuldigungen reichen nicht, schon lange nicht mehr. Inzwischen geht es noch nicht einmal um totale Unterwerfung. Es geht um die öffentliche, soziale, wirtschaftliche und persönliche Totalvernichtung von jedem, der einmal durch den unsichtbaren, immer engeren und willkürlich ideologischen Zaun der Politischen Korrektheit auf die andere, auf die vermeintlich „böse“ Seite geraten ist.
Der Mainstream faselt von kultureller Diversität und folgt dabei einer Vorstellung von Menschengruppen, die ironischerweise der nationalsozialistischen Rassenidee nicht unähnlich ist. Aber gleichzeitig fürchtet sich das grün-linke Milieu vor nichts so sehr wie vor intellektueller Diversität. Man spaltet die Gesellschaft, weil man alles ablehnt, was nicht so ist wie der eigene Lebensentwurf.
Statt Eintracht in Vielfalt ist es Zwietracht in Einfalt.
Die Konzepte von Rassismus, Sexismus und aller nur denkbaren anderen Ismen werden ins Absurde erweitert. So werden künstlich, weltfremd und lebensfern alle möglichen (und noch mehr unmögliche) Opfer erzeugt. Die wissen meist gar nicht, dass und warum sie eigentlich Opfer sein sollen. Aber dann sind sie es plötzlich, und eine gut geölte, noch besser vernetzte und vor allem bestens verdienende Industrie kann sich fürsorglich um sie kümmern.
Wo es Opfer gibt, muss es natürlich auch Täter geben. Das sind dann alle, die irgendwie in die verbotene Zone außerhalb des Zauns der Politischen Korrektheit geraten sind, sozusagen nach Mittelerde: Esser, Dahlmann, Petry, Greiss, Lehmann – und viele mehr, denn es werden immer neue Opfer definiert, also werden auch immer mehr Täter gebraucht: Hans-Georg Maaßen, Boris Palmer, die AfD sowieso.
Die FDP steht schon auf der Liste, demnächst kommt die Post-Merkel-CDU dazu. Ach ja, und eigentlich alle alten weißen Männer, wobei man sich für diese Gruppe von Bösewichtern wegen des steigenden Bedarfs an Tätern immer früher qualifiziert: Das kritische Alter wird sukzessive herabgesetzt, wie beim Wahlrecht. Dabei wird gar nicht mehr versucht zu vertuschen, dass es um die Durchsetzung einer bestimmten Ideologie geht, notfalls mithilfe von plumpen Lügen.
Man versteckt die Bigotterie, die Doppelzüngigkeit, das Messen mit zweierlei Maß gar nicht mehr. Luisa Neubauer darf bei Anne Will völlig unwidersprochen und ohne einen einzigen Beleg oder auch nur ein einziges Beispiel behaupten, Maaßen – immerhin mal Chef des deutschen Verfassungsschutzes – sei ein Antisemit. Derweil verbreitet die grün-linke Schutzheilige Greta Thunberg einen tatsächlich antisemitischen Tweet.
Denkenden Menschen würden diese Widersprüche zwangsläufig irgendwann auffallen. Der Mainstream ignoriert das aber beharrlich. Das liegt daran, dass es im grün-linken Milieu ums Fühlen geht statt ums Denken.
„All das fühlte sich wie ein ganz mieser Film an.“
(Kevin Kühnert – Nachwort zum Buch „Ohne Rücksicht auf Verluste“)
Der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende beschreibt hier seine Erfahrungen mit der „Bild“-Zeitung. Er tut das im Stil des Milieus, das er vertritt: Fühlen statt Denken. Mit Verlaub: Wie ein Politiker sich FÜHLT, ist maximal irrelevant. Entscheidend ist, was er DENKT – und noch mehr, was er TUT.
Aber das ist im grün-linken Mainstream ein veralteter Gedanke. Im ZDF-Interview meinte die grüne Parteivorsitzende Annalena Baerbock allen Ernstes, dass man darüber nachdenken müsse, „dass das Wort ‚Indianer‘ manche Menschen verletzt“ (ab Minute 13).
Die Frau will Bundeskanzlerin des viertgrößten Industriestaats der Welt werden.
„Ich fühlte mich verletzt und allein gelassen.“
(Ursula von der Leyen – am 26. April 2021)
Die Frau, die das sagt, ist immerhin Präsidentin der EU-Kommission. Sie beschreibt den Moment, als der türkische Präsident ihr keinen Sitzplatz anbot. Welche politische Bedeutung haben ihre Gefühle? Warum sollten die für irgendeinen Bürger wichtig sein? Politik ist organisierter Interessenausgleich. Da ist es alleine wichtig, was die Frau DENKT und TUT.
Oder ist sie von ihren Gefühlen so überwältigt, dass sie gar nicht mehr denken und auch nichts tun kann? Möglicherweise hat sie dann den falschen Job.
„Die Journalistin Nicole Diekmann weiß, wie es sich anfühlt, wenn ein Shitstorm über einen hereinbricht.“
(Meedia – am 05. Mai 2021)
Es geht nur noch um mögliche Gefühle irgendwelcher Leute. Fühlen statt Denken. Das ist eine radikale Abkehr von der Aufklärung. Es gibt keine Objektivierung mehr, es gibt nur noch die subjektiven Empfindungen. Es geht nur noch um das Ich.
Es ist die Verweigerung des Erwachsenwerdens.
Und dabei geht es im Kern um Angst. Dahinter steht die unselige linke deutsche Tradition des nationalen Selbsthasses. „Deutschland verrecke“, „Nie wieder Deutschland“ – diese Parolen kann man immer öfter hören und lesen. Die grüne Jugend hat beantragt, das Wort „Deutschland“ aus dem grünen Bundestagswahlprogramm zu streichen. Wie soll man mit einem Land klarkommen, das man so ablehnt?
Selbsthass macht unsicher. Und Unsicherheit drückt sich – ein klassischer psychologischer Reflex – in Aggressivität aus. So kommt es, dass der grün-linke Mainstream so verkniffen wirkt, so humorlos, so intolerant, so autoritär. Er wirkt so, weil er so ist.
Puritanischer Absolutismus.
Das Lied von Hanns Dieter Hüsch aus dem Jahr 1982 endet so:
„Genehmigt nicht nur Rock und Pop.
Das alles klingt so frei, als ob.
Genehmigt auch den freien Geist.
Wenn Ihr noch wisst, was Freiheit heißt.“
(Hanns Dieter Hüsch: „Ihr ehrenwerten Herren“, 1982)
In Deutschland, so viel ist klar, weiß man das nicht mehr.