Nachdem das Volk in den Befreiungskriegen gegen die französischen Besatzungstruppen des Napoleon 1815 genug patriotisches Selbstbewusstsein getankt hatte, setzte das Bürgertum von Baden bis Preußen an, die alte Ordnung der absolutistischen Herrscher auch in deutschen Landen ins Wanken zu bringen.
Die in der Frankfurter Paulskirche tagende Nationalversammlung frei gewählter Abgeordneter verabschiedete am 28. März 1849 eine „Verfassung des deutschen Reichs“, die – wenn auch noch vor einem holprigen Weg der Durchsetzung stehend – bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein wirken sollte.
Meinungsfreiheit und Rechtsstaat
Für das liberale Bürgertum, das die deutsche Revolution des Jahres 1848 getragen hatte, standen dabei die individuellen Freiheitsrechte ebenso wie die Durchsetzung eines uneingeschränkten Rechtsstaats ganz oben auf der Agenda. So war in Artikel § 143 zu lesen:
„Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern.
Die Preßfreiheit darf unter keinen Umständen und in keiner Weise durch vorbeugende Maaßregeln, namentlich Censur, Concessionen, Sicherheitsbestellungen, Staatsauflagen. Beschränkungen der Druckereien oder des Buchhandels, Postverbote oder andere Hemmungen des freien Verkehrs beschränkt, suspendirt oder aufgehoben werden.
Über Preßvergehen, welche von Amts wegen verfolgt werden, wird durch Schwurgerichte geurtheilt.“
Diese strikt zu garantierende Meinungsfreiheit korrespondierte mit § 175, der sicherstellen sollte, dass ausschließlich unabhängige Gerichte darüber zu urteilen haben, ob Bürger ihre Freiheitsrechte in gesetzeswidriger Art und Weise zum Schaden Dritter nutzen. Ausdrücklich wurde festgehalten: Eine Regierungsjustiz darf es nicht geben:
„Die richterliche Gewalt wird selbstständig von den Gerichten geübt. Cabinets und Ministerialjustiz ist unstatthaft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte sollen nie stattfinden.“
Willkürjustiz „für immer“ aufgehoben
In die Verfassung des Staates Preußen vom 31. Januar 1850 flossen diese Forderungen der Nationalversammlung mit dem folgenden Wortlaut ein:
„Artikel 5 – Die persönliche Freiheit ist gewährleistet. Die Bedingungen und Formen, unter welchen eine Beschränkung derselben, insbesondere eine Verhaftung zulässig ist, werden durch das Gesetz bestimmt.
Artikel 7 – Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte und außerordentliche Kommissionen sind unstatthaft.
Artikel 8 – Strafen können nur in Gemäßheit des Gesetzes angedroht oder verhängt werden.“
Als 1871 das kleindeutsche Reich begründet wurde, waren diese Grundregeln eines Rechtstaates und der Freiheitsrechte des Bürgers bereits derart tief im politischen Bewusstsein der Zeit verankert, dass über die entsprechenden Regelungen in den Landesverfassungen hinaus deren detaillierte Erwähnung in der Reichsverfassung unnötig erschien. Das Deutsche Reich unter dem Präsidium des Königs von Preußen war ein freiheitlicher Rechtsstaat, in dem jeder im Rahmen der von den Parlamenten beschlossenen Gesetze ungehindert tun, lassen, denken und schreiben konnte, was er wollte.
Sollte er als freier Bürger in der Wahrnehmung seiner Freiheit über den gesetzlich gebotenen Rahmen hinausschießen, so oblag es ausschließlich unabhängigen Gerichten, darüber zu befinden und im Rahmen der Gesetze eine Bestrafung zu verhängen. Obrigkeitsrechtsprechung, wie sie noch im sogenannten „Vormärz“ – also in der Phase vor der bürgerlichen Revolution von 1848 – Gang und Gäbe war, sollte, wie es ein preußischer Verfassungsentwurf formuliert hatte, „für immer aufgehoben bleiben“.
Kein „immer“ gilt für immer
Nun ist ein politisches „für immer“ schon eh eher Hoffnung denn Realität gewesen. Und Feinde der Freiheit finden sich nicht nur in Staaten ohne Verfassungsrecht. Mit der Machtübernahme des kleinbürgerlichen Proletariats im Jahr 1933 fand dieses preußische „für immer“ sein erstes Ende. Die kollektivistisch-nationalistischen Sozialisten unter dem großdeutschen Österreicher Adolf Hitler setzten Presse- wie persönlicher Freiheit ebenso ein Ende wie einem rechtsstaatlichen Verfahrensgang und der Verhinderung von Willkürjustiz. Sein Kampf gegen die Errungenschaften des Bürgertums fegte die Errungenschaften der Revolutionen und Verfassungsdebatten des 19. Jahrhunderts vom Tisch – ein erster Rückfall in die Willkür des Vormärz vertrieb Deutschlands geistige Elite und vernichtete jene, die zu lange darauf vertraut hatten, dass die Barbarei ein schnelles Ende finden möge.
Zurück nach 1849
Nachdem die Diktatur 1945 in der größten Katastrophe der deutschen Kulturnation geendet hatte, besannen sich die Verfassungsgeber auf jene bürgerlichen Grundsätze der ersten deutschen Demokratie und knüpften an jene Verfassungen an, die 1871 der Reichsgründung zugrunde lagen. Wie einst 1849 hielten sie es anders als die Verfassungsgeber von 1871 dabei für geboten, die bürgerlichen Freiheiten nicht mehr als selbstverständlich hinzunehmen, sondern sie in Folge ihrer Außerkraftsetzung unter Hitler wieder in die Verfassung aufzunehmen.
Sie formulierten wie folgt:
„Art. 2. (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.Art. 5. (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
Art. 92. Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch das Oberste Bundesgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt.
Art. 101. (1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.
Art. 103. (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
Art. 104. (1) Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden.“
Die Verfassungsgeber von 1949 befanden sich damit nahtlos in der Tradition jener Intentionen, die für die bürgerlichen Revolutionäre von 1848 im Mittelpunkt ihrer Ziele gestanden hatten:
- Jeder deutsche Staatsbürger sollte das uneingeschränkte Recht haben, seine Meinung ungehindert in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern.
- Einschränkungen fand dieses Grundrecht auf persönliche Freiheit ausschließlich auf Grundlage geltenden Rechts.
- Über den Straftatbestand eines Rechtsverstoßes durch Nutzung der Meinungsfreiheit hatten ausschließlich unabhängige Gerichte zu entscheiden.
- Eine Willkürjustiz, gleich ob durch staatliche oder private Institutionen, war absolut auszuschließen.
Das Ende von Freiheit und Justiz
So also sah es aus mit den Freiheitsrechten und der Unabhängigen Rechtspflege in deutschen Landen. Von 1848 bis 1933 und von 1949 bis – ja, bis wann? 2016? 2017?
Denn seit einiger Zeit sucht ein deutscher Bundesminister der Justiz Anschluss an jene verhängnisvolle Tradition von vor 1848 und 1933 bis 1945. Der Saarländer Heiko Maas dreht die Zeit zurück auf einen absolutistisch-kollektivistischen Zustand des Vorbürgertums. Er handelt verfassungsfeindlich im Sinne der deutschen Verfassungen von 1848 bis 1949. Denn er schränkt nicht nur die grundlegenden Freiheitsrechte ein – er entzieht die Deutschen auch ihren gesetzlichen Richtern, indem er weder dazu befugte noch dazu qualifizierte Instanzen beruft, über das Verhalten von Bürgern zu richten.
Denn nichts anderes als eine radikale Attacke auf die vom Bürgertum erkämpfte Rechte sind all die Angriffe des sozial-kollektivistischen Ministers auf die Freiheit und Unabhängigkeit in den sozialen Netzwerken und anderswo. Angefangen mit der Gedankenpolizei der Ex-Stasi-Zuarbeiterin Anetta Kahane schafft der Minister der Zensur neue Ständegerichte, die abgekoppelt von Staatsanwaltschaft und ordentlichen Gerichten „Recht“ durchsetzen sollen. Des Maasens jüngste Initiative, das aus seiner Sicht unzureichende Vorgehen der Betreiber sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter gegen „Hassbotschaften“ mit Strafen von bis zu 50 Millionen Euro zu ahnden, ist der finale Rückfall in die Willkür- und Ständejustiz der Zeit vor 1848.
Freiheitsmissbrauch rechtsstatlich bekämpfen
Es geht dabei nicht darum, dass unbestritten in der Anonymität der Netzwerke sich Psychopathen und Zukurzgekommene teilweise auf unerträgliche Art und Weise austoben. Unbestreitbar kann bei einem als Leser solcher Posts nicht selten der Eindruck entstehen, dass manche Teilnehmerschaften vollständig und ohne Ausnahme in die Betreuung einer geschlossenen Anstalt genommen werden sollten.
Doch – wie gesagt – darum geht es überhaupt nicht. Es geht vielmehr darum, dass in einem Rechtsstaat ausschließlich unabhängige Gerichte darüber zu befinden haben, ob und wann ein Rechtsverstoß vorliegt. Dieses ist weder Aufgabe stasi-erprobter Nazi-Jäger noch irgendwelcher Mitarbeiter in den Verwaltungsstuben der Netzwerkbetreiber. Es ist auch nicht Aufgabe angeblicher Redaktionsstuben, die Bewertung sogenannter „FakeNews“ vorzunehmen und deren Löschung zu veranlassen.
All das ist, so es als notwendig erachtet wird, ausschließliche Aufgabe der Staatsanwaltschaft in der Ermittlung und der Gerichte in der Aburteilung. Wird dieser rechtsstaatliche Weg – wie derzeit zu erleben– zerstört, dann wird der Rechtsstaat vernichtet.
Denn jeder Eingriff in die grundgesetzlich garantierte Freiheit des Einzelnen – und zu dieser Freiheit gehört eben auch das Recht, den gröbsten Unsinn zu schreiben und mit Vorsatz gegen jedes geltende Gesetz zu verstoßen – ist ein Schritt zurück auf dem Weg in den Vormärz.
Gab es vor 1848 Gutsherrenrecht, welches willkürlich über die Leibeigenen und Untertanen zu „richten“ hatte, so sind dieses heute die von Maas eingesetzten Sondergerichte und Zensurstellen.
Der Minister der Unfähigkeit
Ja, es ist richtig, den Müll, der nicht nur in den sozialen Netzwerken tagtäglich verbreitet wird, nicht ohne Reaktion hinzunehmen. Dagegen zu wirken aber kann nicht in die Hände von Laien und willkürlich beauftragten, nichtstaatlichen Unternehmen gelegt werden. Dagegen zu wirken darf und muss ausschließlich den deutschen Gerichten vorbehalten bleiben. Denn ausschließlich diese verfügen in einem funktionsfähigen Rechtsstaat über die Qualifikation und die Befugnis, dieses zu tun.
Wenn der Bundesminister der Zensur nun seit geraumer Zeit Verfassungsgrundsätze aushebelt, dann kann dieses unterschiedliche Gründe haben:
- Seine Unfähigkeit, in rechtsstaatlichen Verfassungskategorien zu denken.
- Seine Unfähigkeit, die in einem Rechtsstaat für die unabhängige Strafverfolgung zuständigen Justizinstanzen entsprechend auszustatten.
- Seine Unfähigkeit, sich von seiner ideologischen Wut gegen jeden Andersdenkenden zu lösen.
Ein Grund jedoch ist absolut auszuschließen: Den unabhängigen Rechtsstaat auf Grundlage der bürgerlichen Verfassungen Deutschlands zu akzeptieren.
Klarnamenpflicht statt Sondergerichte
Dabei wäre es doch ganz einfach – wäre es dem Bundesminister der Zensur ein juristisches und kein ideologisches Anliegen. Maas müsste nichts anderes tun, als in den oft wenig sozialen Netzwerken per Gesetz die Klarnamenpflicht einzuführen und die Betreiber auf die entsprechende Überprüfung der Teilnehmer an ihren Angeboten zu verpflichten. Nicht nur, dass damit schlagartig Schluss wäre mit dem überbordenden geistigen Müll, den manche Zeitgenossen dort anonym verbreiten – die allein zuständigen Strafverfolgungsbehörden wären endlich auch in der Lage, ihre Aufgaben gegenüber den kriminellen Postern effektiv wahrzunehmen.
Darüber hinaus hätte die Klarnamenpflicht noch einen weiteren Vorteil: Die Pseudo-Teilnehmer der sogenannten „Bots“ – computergenerierte Meinungsmacher – wären ebenfalls schnell ausfindig zu machen und zu unterbinden, womit sich die Frage der FakeNews dann ebenfalls recht schnell klären dürfte.
Diesen unmittelbaren Weg jedoch, der uneingeschränkt auf dem Boden deutscher Verfassungen stehen würde, wagt der Bundesminister der Zensur wohl nicht einmal anzudenken. Da muss die Frage nach dem „Warum?“ erlaubt sein.
Spontan fallen einem dazu nur zwei Antworten ein:
1. Heiko Maas fürchtet seine politische Stammklientel, die wie jene von der anderen politischen Seite ihre Psychosen anonym im Netz ausleben – allerdings ungehindert von Gedankenpolizei und Zensur, da sie ja auf der „richtigen“ Seite posten.
oder
2. Heiko Maas kommt das unregulierte Chaos im Netz sehr gelegen, weil es ihm die Möglichkeit einräumt, die bürgerlichen Freiheitsrechte Schritt für Schritt abzuräumen und einen meinungstotalitären Staat zu etablieren, wie die Deutschen ihn schon wiederholt in ihrer Geschichte erdulden mussten.
Welche dieser beiden Möglichkeiten die Wahrscheinlichere ist – oder ob vielleicht beide Aspekte gleichermaasen zum Tragen kommen – darüber mag der geneigte Leser selbst entscheiden.