Vor nicht allzu langer Zeit wurden für die Bundeswehr folgende zwei Perspektiven aufgelegt: Erstens soll sie von 183.000 auf 203.000 „Mann“ anwachsen, so ein „Eckpunktepapier“ vom 18. Mai 2021.
Und zweitens soll sie „kriegstüchtig“ werden, so Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im November 2023. Lassen wir die Dramatik des Begriffs „Kriegstüchtigkeit“ beiseite: Es ist eher ein Begriff, der potenzielles Personal abschreckt. „Echte Verteidigungsfähigkeit“ hätte gereicht.
Wie auch immer: Von beiden Vorgaben ist die Bundeswehr Lichtjahre entfernt. Der Personalbestand ist im Mai 2024 sogar auf 180.189 „Mann“ gefallen: 112.704 Soldaten auf Zeit, 57.333 Berufssoldaten, 10.152 Freiwillig Wehrdienstleistende (FWDL). Das ist die niedrigste Zahl seit 2018. Und Stichwort „Kriegstüchtigkeit“: Auch die materielle Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme hat sich (trotz oder wegen „Ukraine“?) nicht signifikant verbessert.
Nun hat Verteidigungsminister Boris Pistorius am Vormittag des 12. Juni im Verteidigungsausschuss des Bundestages sein Modell einer neuen Wehrpflicht vorgestellt. Das Modell war einer von 14 Punkten der nicht-öffentlichen Ausschusssitzung, und zwar unter der Überschrift: „Bericht des Bundesministers der Verteidigung zum neuen Wehrdienst“. Pistorius hat sich für die Festlegung dieses Termins Zeit gelassen, vermutlich hat er die Vorstellung seiner Pläne aus wahltaktischen Gründen bewusst auf einen Termin nach den EU-Wahlen vom 9. Juni gelegt.
Jedenfalls will bzw. muss Pistorius die massiven, negativen personalpolitischen Auswirkungen wieder einfangen, die der Bundeswehr mit dem Aussetzen der Wehrpflicht im Jahr 2011 vor allem durch das Trio Merkel, Seehofer, zu Guttenberg beschert worden waren.
Wehrpflicht „light“
Nach dem Studium des neuen Wehrpflichtmodells von Schweden stellt sich Pistorius Wehrpflicht nun wie folgt vor. Er will damit pro Jahr 10.000 junge Männer und Frauen neu einstellen (siehe hier und hier).
Stufe I: Jedes Jahr werden alle 18-jährigen Männer und Frauen per Postkarte angeschrieben. Nicht mehr wie bislang nur mit Hinweisen auf Karrieremöglichkeiten beim „Bund“, sondern als Fragebogen, den die Männer ausfüllen müssen. Andernfalls könnte ein Bußgeld drohen. Die Höhe ist noch unklar. Frauen sollen den Fragebogen ausfüllen können. Die Fragen sollen persönlich sein, etwa zur Fitness oder zur persönlichen Motivation. Im Verteidigungsministerium glaubt man, dass man so etwa 350.000 Rückmeldungen von Männern und etwa 50.000 von Frauen bekommt. Für die Bearbeitung der Rückläufe sind etwa 500 neue Dienstposten nötig.
Stufe II: Von den – erhofften – 400.000 Rückläufern sollen 40.000 Männer und Frauen von Bundeswehr-Ärzten gemustert werden. Dafür braucht es vermutlich nochmal etwa 200 Dienstposten.
Stufe III: Von den 40.000 gemusterten Männern und Frauen sollen dann tatsächlich 10.000 eingestellt werden, so die Spekulation im Bendlerblock. Die dafür notwendigen Ausbildungskapazitäten müssen erst noch geschaffen bzw. erweitert werden: Aktuell gibt es Kapazitäten für eine Ausbildung von nur 5.000 bis 7.000 Rekruten. Der Dienst soll insgesamt zwischen 6 und 12 Monate dauern. Er verbindet sich seitens der Planer mit der Hoffnung, dass möglichst viele der 10.000 „Geschmack“ an der Bundeswehr finden und sich länger verpflichten.
Stufe IV: Im Fall eines Angriffs auf Deutschland bräuchte es laut internen Planungen wohl 250.000 bis 300.000 Soldaten. Für den Fall der Landes- und Bündnisverteidigung allein auf die Wehrpflicht zu setzen, reicht insofern nicht aus. Das wissen Pistorius und seine Planer natürlich. Deshalb wollen sie zukünftig zusätzlich stärker auf einsatzbereite Reservisten zugreifen können. Deren Zahl soll von 44.000 auf 60.000 steigen.
Es reicht dennoch nicht!
Wenn man sich vergegenwärtigt, was Länder wie Estland, Lettland, Litauen, Finnland, Schweden und Norwegen oder gar Israel an Streitkräften auf die Beine stellen, kann man angesichts der Lage der Bundeswehr nur den Kopf schütteln. Diese Länder haben die Wehrpflicht nie abgeschafft oder sie nach 2014 (Krim!) wieder eingeführt: Lettland, Litauen, Schweden.
Man sollte sich innerhalb und außerhalb Europas ein paar Relationen veranschaulichen:
- Polen hat bei 41 Millionen Einwohnern eine Armee-Stärke von 202.000.
- Südkorea mit einer Bevölkerung von 52 Millionen hat eine Armee mit 600.000 aktiven Soldaten und 3,2 Millionen Reservisten.
- In Finnland leben 4,5 Millionen Menschen; es hat 30.000 Soldaten und 900.000 „Mann“ Reserve.
- Israel mit etwas mehr als 9 Millionen Bewohnern und mit einer Fläche von der Größe Hessens hat 175.000 aktive Soldaten, dazu mehr als 465.000 rasch verfügbare Reservisten.
- Und: Die „alte“ Bundesrepublik hatte mit einer Wohnbevölkerung von 64 Millionen eine Bundeswehr mit 495.000 Mann. Damals gab die Bundesrepublik übrigens 3,5 Prozent der Gesamtwirtschaftsleitung BIP für Verteidigung aus. Heute sind es – ohne „Sondervermögen“ – 1,5 Prozent.
Mit anderen Worten: Wollte Deutschland auch nur die Relationen Finnlands oder Polens erreichen, bräuchte es eine Armee von 380.000 bis 500.000 „Mann“.
Fazit: Es wird kein Weg daran vorbeiführen, die Bundeswehr attraktiver für Zeit- und Berufssoldaten zu machen. Auf für hochkarätige Spezialisten für die „neue“ Dimension von Krieg – neben zu Land, zu Wasser und in der Luft: den Cyberkrieg. Und es wird kein Weg daran vorbeiführen nachzudenken, ob es nicht einer allgemeinen Dienstpflicht bedarf.
Ob die „Ampel“ den Mumm hat, diese zwei Gedanken zu verfolgen? Ob die Union den Mumm hat mitzuziehen? Gerade letztere, die CDU/CSU, war es ja, die die Bundeswehr 16 Jahre lang vernachlässigt, ja an die Wand gefahren hat.
Der reale Zustand der Bundeswehr lässt sich übrigens allein daran ablesen, dass sie drei Jahre (von 2024 bis 2027) braucht, um eine 4.800 Mann starke „Brigade Litauen“ einsatzfähig zu stationieren.