Noch vor einem halben Jahr sah alles nach einem ebenso harmonischen wie zielstrebigen Neuanfang in der sonst chronisch zerstrittenen Berliner Sozialdemokratie aus. Der bei Umfragen regelmäßig unbeliebteste Regierungschef der Bundesrepublik, Michael Müller, ließ aus dem Roten Rathaus wissen, zwölf Jahre Parteivorsitz seien genug. Beim Landesparteitag im Oktober werde er nicht mehr kandidieren. Für die künftige Führung wurde eine Doppelspitze mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, der früheren Bürgermeisterin von Neukölln, und dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, kreiert. Obwohl Müller seinen Rückzug als „Regierender“ nicht formal ankündigte, gingen alle Genossen und auch die Öffentlichkeit davon aus, dass Giffey kurz vor Weihnachten zur Spitzenkandidatin ausgerufen werden soll.
Müller entdeckt neue Lust am Regieren
Seit Müller bei der Bewältigung der Corona-Krise bessere, im Bundesvergleich allerdings bescheidene Noten bekommt, scheint er neue Lust am Regieren entdeckt zu haben, was nicht nur das künftige Führungsduo schreckt, sondern auch alte Grabenkämpfe auslösen dürfte. „Da geht noch was“, sagte Müller in einem Interview, nahm für sich Erfolge bei Wissenschaft und Forschung in Anspruch.
Müller bringt vor allem Giffey in Verlegenheit. Sollte er doch weitermachen, dürfte sie die Landesliste für die ebenfalls im Herbst 2021 über die Bühne gehende Bundestagswahl anführen. Eigentlich war für ihn der im Reißverschlussverfahren einem Mann zustehende zweite Platz reserviert. Im Augenblick stellt die SPD fünf Bundestagsabgeordnete, hatte sie mit 17,9 Prozent bei der bundespolitischen Entscheidung doch eine historische Klatsche und sogar ein Prozent weniger als die Linke bekommen.
Wenn Müller sich nicht schnell entscheidet, droht eine Palastrevolution. Überdies dürfte er bei beiden machtpolitischen Varianten den Unmut der immer weiter nach links rutschenden Berliner SPD zu spüren bekommen. „Er merkt nicht, dass er als Kuh quer im Stall steht“, meinte ein Genosse.
Mit dem anerkannten Verteidigungspolitiker Fritz Felgentreu und dem Spandauer Swen Schulz geben zwar zwei Abgeordnete ihr Mandat auf und mit der Berufung von Eva Högl auf das Amt der Wehrbeauftragten gibt es zwar Platz, doch fehlt es nicht an Bewerbern. Die Unterstützung der neuen Parteiführung von Saskia Esken und Walter Borjans hat der Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert, der im Bezirk Tempelhof-Schöneberg kandidiert. Der ewige Student ist inzwischen zu einem Anhänger von Olaf Scholz mutiert, dem er einen „tollen Job in Corona-Zeiten“ attestiert.
Chebli könnte für den Bundestag kandidieren
Da die Finanzfachfrau Cansel Kiziltepe und der Energie-Experte Klaus Mindrup als gesetzt gelten und die für Högl nachgerückte Mechthild Rawert ebenfalls Ambitionen hat, wird es für Neuankömmlinge schwer. Gute Chancen werden der Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement und Bevollmächtigten des Landes beim Bund, Sawsan Chebli, eingeräumt. Die umstrittene und hochemotionale Kämpferin gegen Diskriminierung könnte im bürgerlichen Charlottenburg kandidieren. Interesse an einem Sitz im Bundestag wurde auch schon immer Björn Böhning, dem Staatssekretär im Arbeitsministerium nachgesagt. Ob er freilich bei dieser Wettbewerbslage in den Ring steigt, erscheint mehr als fraglich.
Dieser Beitrag von Dieter Weirich erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.