Tichys Einblick
Habeck und sein Milieu

Pauschale Entfernung vom Leben

Robert Habecks Ahnungslosigkeit beleuchtet ein grundsätzliches Problem: die Bessermeinenden in Deutschland kümmert die Lebenswelt der anderen außerhalb der Städte nicht. Das könnte früher oder später zu einer Eruption führen.

Screenprint: ZDF/Bericht aus Berlin

Es war kein Blackout, als Grünen-Chef Robert Habeck im „Bericht aus Berlin“ vorzurechnen versuchte, dass sich Pendler durch die neuesten Beschlüsse der Bundesregierung künftig sogar noch bereichern: Weil der Benzinpreis nur um drei Cent pro Liter steigen soll, die Pendlerpauschale aber um 5 Cent. „Einen Anreiz zu geben möglichst weite Distanzen zu fahren ist klimapolitisch Wahnsinn“, dozierte Habeck, der offenbar glaubt, dass Pendler aus steuerlichen Gründen gern noch eine Extrarunde einlegen. Die Neureglung sei der falsche „Anreiz“, so der Grünen-Vorsitzende: „Da lohnt es sich eher mit dem Auto zu fahren als mit der Bahn.“

Nun hatten schon etliche andere Autoren ausgeführt, dass an Habecks Darlegung rundum alles dumm, falsch und von Ahnungslosigkeit geprägt ist: Die Entfernungspauschale – so die korrekte Bezeichnung – ist seit 2001 verkehrsmittelunabhängig, sie gilt selbst für Fußgänger. Ausgenommen ist nur das Flugzeug. Erhöht um 5 Cent wird die Entfernungspauschale von derzeit 30 Cent pro Kilometer auch erst ab dem 21. Kilometer des Gesamtweges. Und die Pauschale bekommt der Pendler nicht etwa ausgezahlt. Sie reduziert nur seinen Steuerbetrag. Wer täglich 30 Kilometer pendelt, darf also künftig 50 Cent zusätzlich von der Steuer absetzen.

Es gibt im Weltbild des Parteivorsitzenden noch einen Punkt, der über das Milieu, aus dem er stammt, möglicherweise mehr sagt als seine steuerliche Inkompetenz: nämlich die Vermutung, zehntausende Berufspendler in Deutschland bräuchten einfach nur den richtigen „Anreiz“, um endlich auf die Bahn umzusteigen. Habeck repräsentiert ein großstädtisches, genauer gesagt: innerstädtisches und besserverdienendes Publikum, das sich eine andere Lebenswirklichkeit gar nicht mehr vorstellen kann und will. Dabei ist er nicht allein. Das Milieu umfasst selbst bei großzügiger Rechnung höchstens ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland, beherrscht allerdings gut 90 Prozent der öffentlichen Meinungsproduktion. Am vergangenen Freitag richtete die Journalistin Angela Ulrich aus dem ARD-Hauptstadtstudio in einem Tagesthemen-Kommentar ihre konzentrierte Verdammungsrhetorik gegen das Klimapaket der Bundesregierung und speziell gegen Angela Merkel, die zu „mutlos“ sei und etwas beschlossen habe, das „keinem wehtun soll“:

„Gestern vorm Kanzleramt: Schülerinnen und Schüler von „Fridays for Future“ halten ein langes, selbstgemaltes Transparent in die Höhe. „Rückkehr der Klimakanzlerin“ ist da zu lesen. Mit einem großen Fragezeichen dahinter, und einem – kleinen – Ausrufezeichen. Es war ein Hoffnungsschrei, gerichtet an die Frau hinter den dicken Mauern.
Aber die Klima-Kanzlerin hat abgedankt. Mit Pauken und Trompeten. National hatte Merkel das schon lange. Deutschland kommt zu langsam voran beim Kohleausstieg. Frühere Klimaziele wurden gerissen, Klima-Pakete verhallten fast wirkungslos. Und jetzt hat sie auch noch die Hoffnungen der Klima-Jugend böse enttäuscht.
Das, was die Koalition als Klimaprogramm 2030 verkauft, ist ein Flop. Ein mutloses Stück Papier, das niemandem wehtun will. Das gar nicht ernsthaft versucht, die Menschen zu klimafreundlicherem Verhalten zu lenken – oder wer bitte soll bei drei Cent teurerem Benzin in drei Jahren das Auto stehen lassen?“

Dass Pendler ihr Auto „stehenlassen“ und trotzdem Pendler blieben, wenn die Regierung das Fahren so verteuert, dass es weh tut, ist offenbar die feste Überzeugung der öffentlich-rechtlichen Redakteurin, Robert Habecks und noch einiger anderer grüner Spitzenpolitiker und Tonangeber in den Medien.

Es bräuchte nur eine Exkursion der Hauptstadtstudio-Journalistin durch weite Teile Brandenburgs, die Uckermark, den Schwarzwald, die Eifel, durch Unterfranken und die Oberpfalz, um festzustellen, dass in Deutschland weite Landstriche mit Millionen Einwohnern existieren, in denen Arbeiter und Angestellte nur mit dem Auto zu ihrem Arbeitsplatz kommen, Dienstleister zu ihren Kunden und Bürger ganz allgemein zum nächsten Supermarkt, und dass daran auch ein noch so exzessiver Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs nichts ändern würde. Übrigens reden die Bewohner dieser Gegenden in der Regel gar nicht vom Ausbau des Nahverkehrs; sie wären schon froh, wenn das bestehende dünne Netz halbwegs zuverlässig funktionieren würde, was es oft nicht tut. Wer außerhalb der Metropolen tatsächlich gezwungen würde, sein Auto stehenzulassen, also abzuschaffen, der könnte das nur, wenn er es auch aufgeben würde, einer Erwerbsarbeit nachzugehen.

Der Grat, der zwischen Pendeln und Hartz IV liegt, stellt sich für ziemlich viele Arbeitnehmer schmaler dar, als sich das grüne Spitzenpolitiker und ARD-Hauptstadtstudiomitarbeiterinnen mit einem geschätzten Monatsbrutto zwischen 6.000 und 7.000 Euro vorstellen können beziehungsweise wollen. Nach Angaben des Bundessozialministeriums verdienen 3,38 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland in Vollzeit weniger als 2.000 Euro brutto. Das sind im Westen 13,5 Prozent der Arbeitnehmer, im Osten 27,5 Prozent. Im armen Mecklenburg-Vorpommern liegt der Anteil bei 32,6 Prozent, im reichen Bayern immerhin noch bei 12,8, in Baden-Württemberg bei 11,4 Prozent. Diejenigen, die als Geringverdiener gelten, liegen andererseits gar nicht besonders weit weg von der Mitte:

Das Durchschnittseinkommen in Deutschland – Voll- wie Teilzeit – belief sich, Stand 2017, auf 2.860 Euro brutto und 1.890 Euro netto. Zwei große Gruppen existieren in der Masse der 18,4 Millionen deutschen Arbeitspendler: diejenigen, die von ihrem Ort in die nächste Kreisstadt fahren, weil nur dort das entsprechende Jobangebot existiert. Und die Polizisten, Krankenschwestern, Kassierer und Angestellten, die aus der Peripherie in Großstädte pendeln, in denen sie sich für ihr Nettogehalt keine oder nur eine winzige Wohnung leisten könnten. Nach Angaben des ADAC benutzen gut 85 Prozent derjenigen, die täglich die typische Strecke zwischen 25 und 50 Kilometer zurücklegen, das Auto. Sie könnten es in Zukunft stehenlassen, weil ihnen die Mineralölsteuer-Erhöhung, die sich Rad fahrende Gutverdiener in Großstädten für sie ausdenken, tatsächlich schnell weh tun würde. Sie könnten dann aber auch in ihr Auto steigen, je nach Stauraum und Geschmack noch eine Mistforke einpacken und zum ARD-Hauptstadtstudio fahren, um dort mit der Redakteurin und Robert Habeck über soziale Realität zu diskutieren.

Es passiert nicht zum ersten Mal, dass sich gutdenkende urbane Eliten Gedanken darüber machen, wie Leute außerhalb der zentralen Stadtquartiere mit der fiskalischen Peitsche besser zu erziehen wären. Erst vor kurzem meinte eine ARD-Redakteurin in den Tagesthemen, Flugpreise müssten wegen des Klimas per Steuer drastisch nach oben. Das träfe dann auch Geringverdiener, die ihren jährlichen Mallorca-Urlaub nicht mehr bezahlen könnten. Aber das sei eben ein nötiges Opfer. Ein WDR-Journalist bat vor einigen Wochen auf seinem Tagesthemen-Kommentarplatz den Staat flehentlich darum, Benzin, Fleisch und Flüge „so richtig, richtig“ teuer zu machen.

Es geht in dieser Debatte nicht nur um Einkommen. Sondern um eine mutwillige und pauschale Entfernung vom Lebensgefühl außerhalb des eigenen Habitats. Zum Lebensgefühl des gutverdienenden meinungsschaffenden Milieus in den Metropolen gehört es längst, dass praktisch alle Lasten an die Peripherie geschoben werden, ihnen aus den Augen und gar nicht erst in den Sinn. Die Windräder für die gute Ökoenergie stehen selbstverständlich draußen vor den Städten, und drücken dort den Wert umliegender Einfamilienhäuser auf Null. Es sind Städter, die sich für die Wolfsansiedlung in der Lausitz begeistern, also der Zone, aus der jetzt auch die letzten industriellen Jobs verschwinden sollen – nämlich die der Braunkohlewirtschaft. Weil das die Klimajugend fordert, und die ARD-Redakteurin obendrein findet, dass die Jobs dort viel zu langsam abgebaut werden.

Es gäbe schlagartig eine andere Debattenlage im Land, wenn 240 Meter hohe Windräder vor Mansardenwohnungen im Prenzlauer Berg und in Schwabing gepflanzt würden, wenn der Wolf im Englischen Garten ausgewildert würde und Asylbewerberheime bevorzugt in Parks von Gründerzeitvierteln stünden, wenn Bundestagspolitikern der Fahrdienst und die Taxifreifahrten gestrichen würden – zu viel CO2 ! – und den Öffentlich-Rechtlichen die Rundfunkgebühr. Damit mal etwas richtig weh tut. Millionen Arbeitnehmer würde das immerhin um 17,50 Euro monatlich entlasten.

Die eigentliche Spaltung in Deutschland verläuft zwischen dem grün-urbanen Bürgertum und denen, die, wie der französische Autor Christophe Guilly schreibt, sich weniger Gedanken über das Ende der Welt machen, sondern über das Ende des Monats. Nicht die Gehaltsdifferenzen und die unterschiedlichen Lebenswelten sind das Problem, sondern die Unfähigkeit der guten Urbanen, auch nur minimal von sich selbst zu abstrahieren.

Keine Partei verkörpert dieses von sich selbst begeisterte Milieu so sehr wie die Grünen. Ob der Apothekersohn Robert Habeck, ob Katrin Göring Eckardt, Tochter von Tanzlehrern, selbst ohne Studienabschluss, ob die diplomierte Politologin Katharina Schulze, aufgewachsen in Herrsching am Ammersee, oder die Großbürgertochter und FFF-Aktivistin Luisa Neubauer – praktisch niemand aus ihrem Personal stammt aus so genannten kleinen Verhältnissen.

Eine schwarz-grüne Koalition, von der sich der CSU-Politiker Manfred Weber aus welchem Grund auch immer eine Befriedung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland erhofft, hätte außerhalb der Großstädte meist keine Mehrheit. Und übrigens auch in ganz Ostdeutschland nicht.

In den Augen von Normalverdienern in der Provinz wirkt es obszön, wenn das Land Berlin die Anschaffung von Lastenrädern – das aktuelle Lieblingsspielzeug der grünen Wählerklientel – mit bis zu 1.000 Euro subventioniert.

Also mit Geld, das eigentlich in Süddeutschland verdient wurde, auch von vielen Pendlern, damit es in die Hauptstadt transferiert und dort zum Stimmenkauf eingesetzt werden kann. Die Geduld derjeniger, die sich an ihrem Wohnort nicht per Lastenfahrrad versorgen und nicht mit Elektroroller zum Büro fahren können, und denen es jetzt auf Beschluss aus Berlin demnächst so richtig weh tun soll – die Geduld also von ein paar Millionen Bürgern ist bewundernswert.

Wenn jemand in Deutschland etwas für den immer wieder zitierten sozialen Zusammenhalt tut, dann ist das nicht der Bundespräsident, ein EKD-Bischof mit Dienstwagen, eine ARD-Redakteurin oder Robert Habeck. Es sind Pendler, die morgens ins Auto steigen, spät abends wieder heimkehren, bestens alle Details der Entfernungspauschale kennen, schon deshalb, weil die ihre Steuersachen selbst erledigen, die den teuersten Strom Europas beziehen, auf mäßige Gehälter unmäßige Steuern bezahlen, den teuersten öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Welt in Gang halten und trotzdem eine zwar brüchige, aber immer noch intakte Nachsicht mit der meinenden, kommentierenden und schulmeisternden Klasse an den Tag legen.

Geduld, Robert Habeck, gehört nicht unbedingt zu den nachwachsenden Rohstoffen. Sie wird verbraucht. Und speziell Ihre Partei, Robert Habeck, hat heute schon die Geduldsreserven des nächsten Jahrzehnts aufgezehrt. Sie sollten vorsichtiger werden.

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