Die missglückte elektronische Abstimmung der Wahl des Vorsitzenden drängt sich als Symbol des digitalen Rückstands in Deutschland auf, zu dem Sigmar Gabriel in seiner langen Rede (1 Stunde 48) gefordert hat, Deutschland und die EU müssten in 10 Jahren die modernste digitale Infrastruktur der Welt haben. Aber dem Versagen der Technik folgte ein Wahlergebnis für den Vorsitzenden gegen alle Vorhersagen.
Gabriel hielt eine mehr nachdenkliche als sich selbst und die SPD lobende Rede. Er stellte mehr Fragen, als er beantwortete. Gegen Ende seiner Ausführungen beschrieb er den Zustand der Gesellschaft und des Landes kritisch wie ein Oppositionsredner, nicht ein Regierungsmitglied. Das gefiel den Delegierten-Gesichtern nach, die Phoenix zeigte, kaum jemandem. Die überlange Rede enthielt für jeden etwas, lobte alle wichtigen Gesichter der Partei, ein Verfahren, das Hans-Dietrich Genscher in den 1970ern begann und das sich in allen Parteien als Ritual etabliert hat. Im wirtschaftspolitischen Teil der Rede beschwor Gabriel die soziale Marktwirtschaft, welche über den Neoliberalismus triumphiere. Über weite Strecken sprach aus Gabriel mehr der Wirtschaftsminister als der SPD-Parteivorsitzende.
Alle Experten lagen wieder einmal falsch. Gabriel bekam nicht mehr Stimmen als beim letzten mal (83,6%), sondern deutlich weniger, nämlich 74,27 Prozent. Doch nun punktete Gabriel. Er versuchte erst gar nicht, sein Enttäuschung zu verbergen, sondern spitzte seine Rede zu und sagte:
In den Zeitungen wird stehen Gabriel abgestraft, und das ist ja auch so. Jeder weiß, was ich will. 25 Prozent wollen meine Politik nicht. Damit ist entschieden, drei Viertel wollen sie. Ja, ich bin überzeugt, die SPD muss die Mitte ansteuern. Die Summe von Minderheiten macht keine Mehrheit. Nur eine Mehrheit kann Politik für Minderheiten machen. Ja, Leistung muss sich lohnen, die SPD ist eine Leistungspartei. Ja, ich bin für innere Sicherheit, für Vorratsdatenspeicherung. Ja ich bin für Freihandel – zu den richtigen Bedingungen. Ja, ich bin für Wachstum und dann erst für Verteilung. Ja, ich bin für die Begrenzung der Zuwanderung. Drei Viertel stimmen mir zu – und so wird das jetzt gemacht.
Damit steht übrigens Gabriel in großer Tradition: Gabriel-Vorgänger Karl Schiller, dessen Büste Gabriel im Wirtschaftsministerium aufgestellt hat, trat aus der SPD aus. Kluges und marktwirtschaftliches Denken – das paßt nicht. Der zur Heiligsprechung anstehende Helmut Schmidt fürchtete nichts mehr als seine Partei; und nicht Helmut Kohl hat ihn aus dem Amt getrieben, sondern die eigene Fraktion. Alex Möller als Finanzminister, Hans Apel ebendort, und Gerhard Schröder: Wirtschaftliche Vernunft führt in der SPD eher früher als später zum Edeka. Zum Ende der Karriere. Viel Erfolg, Sigmar Gabriel.