Die Wahl der neuen Vorsitzenden der SPD, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, sorgte im In- und Ausland für große Verwunderung. Was treibt die Mitglieder dieser Partei und die Delegierten ihres jüngsten Parteitages dazu, zwei (bundespolitischen) Nobodys die Führung ihrer Partei anzuvertrauen und gleichzeitig einem national wie international erfahrenen sowie bei den Wählern anerkannten Bundespolitiker wie Olaf Scholz den Stuhl vor die Tür zum Parteivorsitz und zur Kandidatur für das Kanzleramt zu stellen? Begehen die Sozialdemokraten, wie etwa Friedrich Merz meint, gezielten Selbstmord an ihrer Partei, wenn sie unter anderem beschließen, die von Gerhard Schröder unter dem Titel Agenda 2010 in Gang gesetzte Politik des Förderns und Forderns endgültig zu beerdigen und sich sozialpolitisch wieder allein auf das Fördern und die Verteilung zusätzlicher Sozialleistungen zu verlegen? Oder sind sie tatsächlich der Meinung, mit dieser Politik ließe sich bei den kommenden Bundestagswahlen ein Wahlergebnis von dreißig Prozent erzielen, wie es ihnen von ihrem neuen, gendergerecht gewählten Führungs-Duo versprochen worden ist?
Kein Wunder also, dass die Funktionäre, Mitarbeiter und Mitglieder der SPD von der Frage umgetrieben werden, ob und wie der weitere Niedergang ihrer Partei gestoppt und nach Möglichkeit wieder umgekehrt werden kann. Während über das Wie allerdings seit Jahren öffentlich mal mehr, mal weniger gestritten wird, findet die dringend gebotene und eigentlich wichtigere parteiinterne Auseinandersetzung über das OB allenfalls in homöopathischer Dosierung und schon gar nicht öffentlich statt. Die Existenz der SPD als Volkspartei von mehr als dreißig Prozent wird von ihrer alten wie neuen Parteiführung wie eine Monstranz bei einer Fronleichnamsprozession ihren Funktionären und Mitgliedern vorhergetragen, bei der es freilich nicht um die bleibende Gegenwart Jesu Christi im Sakrament der Eucharistie, sondern um die Wiederauferstehung einer ehemaligen Volkspartei geht.
Es blieb bislang weitgehend dem neuen Shooting-Star der SPD, Kevin Kühnert, überlassen, die Frage nach der Zukunft der SPD als Volkspartei zumindest anzureißen. So sprach er sich beispielsweise vor dem Parteitag öffentlich dafür aus, es nicht mehr allen Wählerschichten Recht machen zu wollen, sondern sich auf diejenigen Wähler zu konzentrieren, die die von ihm propagierte Mischung aus linker Sozialpolitik und linker Identitätspolitik befürworten. Er scheint auch am ehesten dazu bereit zu sein, mit dieser Agenda die gewandelten Realitäten anzuerkennen und den Pfad der SPD als Volkspartei nicht nur faktisch, sondern auch strategisch zu verlassen. Begeisterung löst er mit derlei Äußerungen innerhalb der Partei aber allenfalls bei den Jusos, nicht jedoch bei all denjenigen Funktionären und Mitgliedern aus, die um ihre Karrieren und Jobs fürchten und/oder weiterhin den Zeiten Willy Brandts nachweinen, mit dem die SPD im Jahr 1972 sogar fast 46 Prozent der Stimmen holte.
Politische Shooting-Stars verglimmen, wie wir inzwischen wissen, insbesondere bei der SPD manchmal noch schneller als sie erglühen. Dieses traurige Schicksal droht auch dem zum Vize-Vorsitzenden seiner Partei gekürten Juso-Vorsitzenden. Das wissen auch die beiden neuen Vorsitzenden der SPD, denen Kühnert mit seinen weit links angesiedelten Vorstellungen von einer sozialdemokratischen Wirtschafts- und Sozialpolitik zunehmend im Nacken sitzt. Für deren Durchsetzung wäre er auch bereit, wirtschafts- und sozialpolitisch gemäßigte Wählerschichten, die bislang SPD wählten, aufzugeben. Eine mutige, gleichzeitig für die Partei aber auch riskante Strategie, die Kühnert innerhalb der Partei schnell wieder ins Abseits führen kann.
So schlug Walter-Borjans zum Beispiel während der mehrmonatigen Kandidatenkür für den SPD-Vorsitz vor, für die kommende Bundestagswahl gar keinen Kanzlerkandidaten mehr aufzustellen, da die SPD ohnehin keine Chance hat, das Kanzleramt zu erobern. Diesen Vorschlag hat er, um seine Chancen auf den Parteivorsitz nicht zu gefährden, öffentlich zwar nicht mehr wiederholt, mit ihm aber eine klare Aussage zu seinen Erwartungen bezüglich der Zukunft der SPD als Volkspartei getroffen. Seine Co-Vorsitzende Esken erklärte bei ihrer Bewerbungsrede auf dem Parteitag, die SPD zum „Betriebsrat der digitalen Gesellschaft“ machen zu wollen. Damit hat sie freilich ein Ziel beschrieben, das die SPD auf ihrem Weg nach unten schon seit Jahren schon längst verfolgt und inzwischen auch erreicht hat.
Die Aufgabe von Betriebsräten im Rahmen des deutschen Modells der Sozialpartnerschaft besteht darin, gemeinsam mit den Gewerkschaften in den Unternehmen dafür zu sorgen, dass die Arbeitnehmer an deren wirtschaftlichen Fortschritt angemessen beteiligt werden. Einen rechtlichen Anspruch auf die wirtschaftliche Führung der Unternehmen haben sie nicht und wollen ihn aus guten Gründen auch gar nicht haben, müssten sie doch die Hauptverantwortung für deren wirtschaftlichen Ergebnisse übernehmen. Diesen beeinflussen sie mit ihrer Sozialpolitik zwar mit, ohne jedoch für Erfolge gelobt und für Mißerfolge kritisiert oder gar in Haftung genommen werden zu können. Betriebsräte konzentrieren sich ihrer Funktion nach auf die Verteilung des erwirtschafteten Reichtums und befassen sich mit dessen Erwirtschaftung allenfalls am Rande. Das wissen die Beschäftigten und betrachten sie deswegen zwar vielleicht als Co-Manager, nicht jedoch als Manager ihrer Unternehmen.
Diesem nicht zuletzt auch von den Gewerkschaften verfochtenen Credo kann die SPD nur dann folgen, wenn sie mitregiert und so über das Arbeits- und Sozialministerium weiterhin gut die Hälfte des Bundeshalts verwaltet. Die SPD wird deswegen auch unter ihrer neuen Führung die Koalition mit der Union bis zum nächsten Wahltermin nicht aufkündigen. Das wollen angesichts der drohenden weiteren Stimmenverluste bei einer Neuwahl weder die Minister, Staatssekretäre und sonstigen Mitarbeiter der SPD in Berlin noch ihre in den Bundestag gewählten Abgeordneten. Darüber hinaus dürften aber auch die neuen Vorsitzenden der SPD kein Interesse daran haben, ihre Partei in Neuwahlen zu führen, bei denen sie angesichts ihrer derzeitigen Verfassung gegenüber der letzten Bundestagswahl nur weiter verlieren kann.
Beim innerparteilichen Streit um die weitere inhaltliche Ausrichtung geht es nicht um den Verbleib der SPD in dieser Koalition, sondern schon längst um die Frage, mit welchen Inhalten sich am erfolgreichsten die nächsten Bundestagswahlen bestreiten lassen und mit welchen Partnern sich am ehesten die nächste Regierung bilden läßt. Besteht 2021 für die SPD eine Chance, durch eine Koalitionsaussage für die Grünen und die Linke die eigenen Erfolgschancen zu verbessern? Lassen sich in einer Koalition mit den Grünen und der Linken unter Führung der Grünen mehr sozialdemokratische Forderungen durchsetzen als dies mit der Union möglich gewesen ist? Wie sehr schadet eine grüne Umwelt- und Klimapolitik vor allem der eigenen Klientel und wird die SPD deswegen in einer Koalition mit den Grünen nicht weitere Wähler verlieren?
Kurzum: die neue Parteiführung der SPD steht vor einer höchst ungewissen Zukunft und entsprechend schwierigen Fragen und Entscheidungen. Einzig sicher ist, daß sie auf Bundesebene keine Volkspartei mehr ist, die dazu in der Lage wäre, in absehbarer Zeit nochmals das Kanzleramt zu erobern. Die SPD befindet sich deswegen notgedrungen nicht erst seit der letzten Bundestagswahl in einem Selbstfindungsprozess, der die Zusammenarbeit mit der Union innerhalb der Koalition erheblich erschwert. Ihr ehemaliger, zur Partei Die Linke abgewanderter Vorsitzender Oskar Lafontaine sinniert angesichts einer kriselnden Linken insgesamt über die Fusionierung von SPD und seiner Partei, um so die Sozialdemokratie im Bund wieder mehrheitsfähig zu machen.
Soweit geht das neue Führungs-Duo der SPD bislang (noch) nicht, obwohl der Wille der beiden Vorsitzenden und ihres Co-Vorsitzenden Kühnert zur weiteren Annäherung der SPD an die Partei Die Linke nicht zu übersehen ist. Folgt man einer aktuellen Umfrage von Forsa, liegt die SPD seit ihrem Parteitag bei nur noch mageren elf Prozent. Die dort angekündigte Wiederauferstehung der SPD als „linke Volkspartei“ erweist sich angesichts solcher Realitäten als Schwindel. Dabei beginnt laut einem der sozialdemokratischen Gründungsväter, Ferdinand Lasalle, erfolgreiche Politik mit dem Sagen, was ist.