Tichys Einblick
CDU-Parteitag

Operation Wüst: Der NRW-Chef bringt sich als Kanzlerkandidat in Stellung

Geschickt baut sich der Christdemokrat aus Düsseldorf als mittige Alternative zu dem angeblich rechten Friedrich Merz auf. Viele Medien spielen mit: Sie behandeln den schwarzgrünen Merkel-Bewunderer auffallend freundlich.

Hendrik Wüst, Ministerpräsident von NRW, beim CDU-Parteitag am 06.05.2024

picture alliance / dts-Agentur

Schon einmal begann eine politische Operation, die dann einen CDU-Chef das Amt kostete, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im Dezember 1999 platzierte die damalige Generalsekretärin Angela Merkel dort einen Text, in dem sie dem damaligen Ehrenvorsitzenden Helmut Kohl faktisch den Stuhl vor die Tür setzte – und nebenbei noch die Autorität des Interimschef Wolfgang Schäuble beschädigte. Der stürzte wenig später im Jahr 2000 – und Merkel nahm seinen Platz ein.

Im Juni 2023 erinnerte der Ministerpräsident und CDU-Chef von Nordrhein-Westfalen Hendrik Wüst ganz an diese Historie, als er der FAZ einen Gastbeitrag mit der Überschrift „Das Herz der CDU schlägt in der Mitte“ schickte. Der Subtext lautete: Diese Mitte markiert er, Wüst. Und nicht Parteichef Friedrich Merz, den Wüst mit keinem Wort erwähnte. Merz in Berlin deutete die Wortmeldung zutreffend als Anspruch des NRW-Chefs auf die Kanzlerkandidatur. Zwar signalisiert Wüst in Hintergrundgesprächen, er würde als Kandidat und dann als Kanzler Merz in seiner Funktion als Vorsitzenden nicht in Frage stellen. Jeder, der christdemokratische Geschichte etwas kennt, weiß allerdings: Wer einmal im Kanzleramt sitzt, sicherte sich nahezu immer auch rasch den Vorsitz, anders als in der SPD Helmut Schmidt und heute Olaf Scholz. Als einzige Ausnahme regierte Ludwig Erhard von 1963 an drei Jahre lang, ohne auch nach dem Spitzenposten der Partei zu greifen. Das tat er erst 1966 – zu spät, nämlich ein Jahr vor dem Ende seiner kurzen Kanzlerschaft.

Linnemann gegen Schwarz-Grün
Krach in der CDU: Wüst will unbedingt Koalition mit den Grünen, Merz angeschlagen
Seit spätestens 2023 läuft die Operation Wüst in der CDU, unterstützt von etlichen Medien. Der Teil der Christdemokraten, der nach wie vor die Regierungszeit Merkels verklärt, begreift ebenso, wie viele gleichgesinnte Journalisten, dass nach der nächsten Bundestagswahl aller Wahrscheinlichkeit nach ein Unionsmann ins Kanzleramt zieht. Die Überlegung lautet offenbar, vor allem in Redaktionen: wenn schon jemand von der Union, dann jemand, der eben nicht das verkörpert, was Merz’ Generalsekretär Carsten Linnemann auf dem Bundesparteitag in Berlin als Losung ausgab: „CDU pur“. Sondern jemand, der von vornherein so auftritt wie die personalisierte schwarz-grüne Koalition, allerdings mit starkem grünen Schwerpunkt. Genau so präsentiert sich Wüst: Die „Mitte“, die er meint, bedeutet eine Fortsetzung der Merkel-Linie. Demonstrativ verlieh der Düsseldorfer Regent 2023 der Ex-Kanzlerin den NRW-Staatspreis, obwohl sich die Politikerin von ihrer Partei heute weitgehend distanziert. Bekanntlich lehnte sie die Einladung zum gemeinsamen Essen mit Merz ab, aus der Konrad-Adenauer-Stiftung trat sie aus.

Wüst würde gern erreichen, was Merkel nie schaffte: eine Koalition auf Bundesebene mit den Grünen. In Nordrhein-Westfalen arbeitet er mit ihnen so zusammen, dass die Grenze zwischen den beiden politischen Kräften weitgehend verschwimmt. Die Energiewende nach grünem Vorbild lobt Wüst. Er ließ die von seinem linken Partner gewünschten „Meldestellen“ zur Registrierung von Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle einrichten. Die AfD bezeichnet er wie Vertreter der Grünen und der SPD als „Nazipartei“. Das allein genügt ihm noch nicht: Er brachte sich auch bei mehreren Gelegenheit als Politiker ins Spiel, der den angeblich zu rechten Merz zur Ordnung ruft.

Als der CDU-Chef nach den Silvesterkrawallen in Berlin zur Jahreswende 2022/23 den Begriff „kleine Paschas“ für das Dominanzgebaren vieler muslimischer Jugendlicher benutzte, arbeitete sich Wüst vor allem an der Formulierung ab. Es bringe überhaupt nichts zu sagen, so der Ministerpräsident, Kinder hätten „diesen oder jenen Hintergrund. Das sind unsere Kinder“. So etwas kommt in vielen Medien gut an, trägt allerdings nicht dazu bei, das Problem des Machtanspruchs anzugehen, den viele muslimische Jugendliche und junge Erwachsene heute stellen, bis hin zur Forderung nach Errichtung eines Kalifats.

Kurz vor Beginn des 36. Bundesparteitags, auf dem sich Merz der Wiederwahl stellen muss, lassen sich die Züge der Operation Wüst noch etwas deutlicher erkennen. Am Donnerstag vergangener Woche erschien in der FAZ ein Text über Wüsts Ambitionen, der den Politiker nicht direkt zitierte. Aber er stellte heraus, was nach Wüsts Ansicht für ihn und gegen Merz als Kanzlerkandidat spricht: das Alter, die mangelnde Regierungserfahrung des Sauerländers, außerdem der freundschaftliche Umgang, den Wüst mit den Grünen pflegt. Einen Tag später veröffentlichte die FAZ die Vorabmeldung zu einem Interview mit dem schleswig-holsteinischen Regierungs- und CDU-Chef Daniel Günther. Der Linksausleger der Partei gilt als eifrigster Wüst-Unterstützer, der öfters Seitenhiebe gegen Merz austeilt, gegen CSU-Chef Markus Söder erst recht.

Parteistrategische Überlegungen
Weshalb Günther die „Öffnung“ der CDU gegenüber der Linkspartei fordert
In dem FAZ-Gespräch schlug Günther eine „Öffnung“ der Christdemokraten gegenüber der Linkspartei vor. Vor allem in Sachsen und Thüringen, wo die CDU sich als bürgerlich-konservative Alternative zur dominanten AfD darzustellen versucht, bedankte man sich für diesen Nackenschlag aus Kiel. Günther lobte außerdem Thüringens linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow in den höchsten Tönen. Nicht nur CDU-Urgestein Wolfgang Bosbach fiel auf, dass sich Günther nie derart freundlich über Vertreter seiner eigenen Partei auslässt, die rechts von ihm stehen. Schließlich widmete der SPIEGEL am Samstag dem CDU-Parteichef seine Titelgeschichte: „Die Dämonen des Friedrich Merz“.

Darin trug das Hamburger Magazin Anekdoten zusammen, um das Subjekt seiner Berichterstattung als unbeherrscht, erratisch, frauenfeindlich und vorgestrig darzustellen – kurz: das Gegenteil des medial auffällig freundlich behandelten Wüst. Der SPIEGEL schildert beispielsweise, wie Merz vor Zeugen seine Parteikollegin Serap Güler aus NRW abgekanzelt habe. Die Botschaft: So springt Merz mit Frauen um. Es stimmt – Merz verhält sich wesentlich direkter, undiplomatischer und unvorsichtiger als seine Amtsvorgängerin Angela Merkel, die stets andere vorschickte, um Parteimitglieder zusammenfalten zu lassen, die ihr nicht passten. Etwa ihren Generalsekretär Peter Tauber, der einmal CDU-Leute anherrschte: „Wer hier nicht für Angela Merkel ist, ist ein Arschloch und kann gehen.“

Auch Wüst tritt stets wohltemperiert auf, falls er nicht gerade über die AfD wettert. Er beherrscht ähnlich wie sein großes Vorbild aus der Uckermark das Spiel über die mediale Bande. Und er weiß: Die Chancen seines Rivalen Söder auf die Kanzlerkandidatur stehen 2024 noch deutlich schlechter als vor vier Jahren. Das Gefecht um die Spitzenposition findet nur zwischen ihm und dem jetzigen Vorsitzenden statt. Und dessen öffentlicher Teil erst nach den Landtagswahlen im Osten am 1. September. Die Verantwortung für die Ergebnisse liegt dann bei Merz. Der Spin des Wüst-Lagers steht auch schon fest. Geht es in Sachsen und vor allem Thüringen schlecht aus, dürfte es dann heißen: Das lag daran, dass Merz die politische Mitte vernachlässigt hat.

Die Operation Wüst wäre dann fast am Ziel.

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