Das alte Neue Deutschland brachte noch Erfolgsmeldungen zu Plan-Überfüllungen, als der DDR die Bürger bereits über Ungarn und Tschechien wegliefen. Die Herren des Politbüros weigerten sich bis tief in den Sommer 1989 hinein, diese Massenflucht zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen beschäftigten sie sich auf ihren Sitzungen mit ihren Lieblingsthemen wie dem strategischen Umgang mit der westdeutschen SPD.
Unfair wäre indes ein Vergleich zwischen einer Sitzung des DDR-Politbüros und dem Koalitionsausschuss von SPD, Grünen und FDP. Das Politbüro brauchte niemals 30 Stunden, um zu Ergebnissen zu kommen, die nicht tragen. Das schafften die Genossen deutlich schneller. Vermeintliche Erfolgsmeldungen inklusive. In ihrem Gruselfaktor ließen sich die Protokolle von Politbüro und Koalitionsausschuss indes durchaus vergleichen.
Ein bisschen Digitalisierung, Verkehr und Entbürokratisierung. Vor allem aber Klima, Klima, Klima. Das Wetter im Jahr 2050 ist der Bundesregierung wichtiger als der Wohlstand seiner Bürger im Jahr 2030. Olaf Scholz blinkt Grün. Aber gleichzeitig bremst er die Grünen aus. Diesen Widerspruch muss aushalten, wer sich dem Kanzler nähert. Denn über inhaltliche Konsistenz ist er nicht zu verstehen – nur über den Willen zum Machterhalt. Da ist der Kanzler ein Klon seiner Vorgängerin Angela Merkel (CDU).
Das in 30 Stunden dauernder Detailarbeit erstellte Papier wird im Alltag nicht viel wiegen. Zum einen, weil es voller Symbolpolitik steckt: „Künftig wird die Bundesregierung im ersten Jahr einer Legislaturperiode ein umfassendes sektorübergreifendes Klimaschutzprogramm beschließen, um das Erreichen der Klimaziele sicherzustellen.“ Noch mehr Papiere statt Realität. Zum anderen decken sich die Aussagen des Koalitionsausschusses eben nicht mit der Realität.
Es ist fast egal, was Scholz in ein Koalitionspapier schreiben lässt. Am Ende kann sich der Kanzler darauf verlassen, dass es sein Wirtschaftsminister in der Praxis verbocken wird. Wie die Gasumlage. Oder wie das Thema CO2-Ausstoß. Über diesen berichtet das Papier hymnisch: „Ein Umstieg auf erneuerbare Energien macht Deutschland unabhängiger und sorgt für mehr Sicherheit.“ In der Praxis ist Deutschland abhängig von französischem Atomstrom und polnischem Kohlestrom geworden und hat selbst Kohlekraftwerke reaktiviert.
Für Menschen, die von Inhalten her denken, sind solche aktrobatischen Leistungen frustrierend. Doch Scholz ist Machtpolitiker. Und aus der Sicht des Machtpolitikers macht er derzeit viel richtig. Im September 2021 war es noch so, dass Habeck und Annalena Baerbock (Grüne) gemeinsam mit Christian Lindner und Volker Wissing (beide FDP) ein ikonisches Foto schossen. Es signalisierte den Volksparteien, dass jetzt die beiden kleineren Parteien bestimmen, wer in Deutschland regiert. Scholz wurde Kanzler, weil die Grünen ihn gegenüber Armin Laschet (CDU) bevorzugten. Er hatte sich vor ihnen zu verbeugen.
Also ist Scholz zu einer Doppelstrategie genötigt: die Grünen am Seitenrand halten, weil ihren Klima-Extremismus nicht mal in Berlin 20 Prozent der Bevölkerung wollen. Aber gleichzeitig muss er die Grünen bei Laune halten. Deswegen nimmt er sich 30 Stunden Zeit für ein Papier, in dem sich die Koalitionäre mit Fragen beschäftigen wie der Einbindung der Bahncard 100 ins „Deutschlandticket“, den Beginn eines „E-Fuels-Dialogs“ oder der Auswahl von Fahrzeugen, die fürs Carsharing geeignet sind. Während in den gleichen 30 Stunden keine Zeit ist für Randthemen wie Innenpolitik, Außenpolitik, Einwanderungspolitik, Verteidigungspolitik, Finanzpolitik oder Wirtschaftspolitik. Läuft ja von alleine.
Inhaltlich frustrierend. Keine Frage. Aber der Machtpolitiker Scholz denkt nicht in Inhalten. FDP und Grüne spielen nicht mehr ihn und die CDU gegeneinander aus. Er balanciert stattdessen mit den Koalitionspartnern. Angesichts der Schwäche der Opposition ist eine Wiederwahl 2025 durchaus möglich. Über das Wohl des Landes kann er hinweglächeln, wie er über seine Verstrickung in Affären hinweggelächelt hat. So lange Scholz an der Macht ist, ist die Welt in Ordnung. Zumindest die Welt von Olaf Scholz.