Joseph Marie, Comte de Maistre, gilt der (heutigen) FAZ als Vordenker der Neuen Rechten. Was erstaunlich ist, da er bereits vor der Französischen Revolution wirkte. Der sardische Staatsbürger hat der Welt vor allem ein Bonmot hinterlassen, das sich längst von seinem Verfasser gelöst hat und in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.“
Was Josephe de Maistre mit den Neuen Rechten verbindet: Er hat etwas gesagt, was viele nicht gerne hören – aber halt auch nicht widerlegen können. Wer sich den deutschen Regierungschef näher anschaut, kommt an de Maistre nicht vorbei: Die Deutschen haben Olaf Scholz (SPD) verdient. Er ist genau der Kanzler, den sie wollten.
Scholz will gar nicht führen. Das hat er selbst gesagt. In der Bundespressekonferenz. Zu Beginn der Sommerpause. Scholz lässt laufen: Seinen Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der im verregneten Sommer seine Hitzetodkampagne durchgezogen hat, aber die Beiträge für die Krankenkasse steigen lässt. Seine Innenministerin Nancy Faeser (SPD), die Probleme mit der Einwanderung negiert und lieber zu jedem denkbaren Ablenkungsmanöver greift, als die anzugehen. Oder seine Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die den chinesischen Präsidenten einen Diktator nennt und in der sich entwickelnden Wirtschaftskrise die künftige Wirtschaftsmacht Nummer eins zum „Systemischen Rivalen“ erklärt.
Über Scholz‘ Versäumnisse ließe sich lamentieren. Darüber lassen sich ja auch durchaus viele Kommentatoren entsprechend aus. Doch Joseph Marie, Comte de Maistre, grüßt aus seinem Grab: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.“ Die Deutschen wollten es so. Scholz ist heute Kanzler, weil er das verstanden hat. Seine beiden Mitbewerber Baerbock und Armin Laschet (CDU) haben Veränderungen angekündigt, Scholz hat ein Weiterso versprochen. Das Mantra der 16 Jahre dauernden Ära Merkel, in der er zuletzt Vizekanzler war. Mit „Respekt für Dich“ hat er seine Kampagne unter einen denkbar unpolitischen Slogan gestellt.
In Scholz vereinen sich zwei deutsche Tendenzen, die beide in dem langen währenden Wohlstand der Bonner Republik wurzeln. Das eine ist die Angst vor Veränderungen. Das 20. Jahrhundert hat den (West-)Deutschen zwei denkbar unterschiedliche Hälften gebracht. In der ersten mussten sie lernen, dass eine Wirtschaftskrise einem mit einem Schlag den Verdienst eines ganzen Lebens nehmen kann. Und dass eine Demokratie in einer mörderischen Diktatur, in Weltkrieg und einem unfassbaren Menschheitsverbrechen münden kann.
Die zweite Hälfte des Jahrhunderts hat den Westdeutschen dann aber Frieden, Freiheit und einen nie gekannten Wohlstand gebracht. Den Ostdeutschen mit Verspätung auch. Dass die Deutschen danach keine Veränderungen mehr wünschten, ist menschlich nachvollziehbar. Doch dieser verständliche Wunsch nach Kontinuität wuchs sich zu einer pathologischen Angst vor Neuem aus. Weltweit bekannt als „German Angst“. Es ist kein Zufall, dass die Heimat der AEG, des Autos und der Raketentechnik sich heute der Digitalisierung stärker widersetzt als jede andere Industrienation.
Merkel hat sich die „German Angst“ zu Nutze gemacht. Sie hat verstanden, ihren Untertanen das Gefühl zu vermitteln, unter ihr werde sich nichts ändern. Sichtbar gescheitert ist sie, als in der Migrationskrise von 2015, nicht zu handeln, sich als schwerer Fehler erwies. Weniger sichtbar aber dafür umso nachhaltiger ist Merkel gescheitert, als sie sich weigerte, in die Zukunft zu investieren: in Schienen, Straßen, Netzausbau … Sie konzentrierte sich auf die Gegenwart, in der sich nichts ändern sollte. Als Scholz 2021 antrat, war diese Politik immer noch beliebt.
Die zweite deutsche Tendenz, die sich in der Kanzlerschaft Scholz‘ zeigt: Die Deutschen haben das Ende der Spaßgesellschaft verschlafen. Auch das ist menschlich verständlich: Von 1945 bis 1989 hat die „Deutsche Frage“ die Weltpolitik gequält. Hier stand die Mauer, an der Sozialisten Bürger erschossen haben, die den Sozialismus nicht mitmachen wollten. Hier lagerten die weltweit meisten Waffen, waren die meisten Soldaten stationiert. Hier wären die Atombomben niedergegangen und hätten menschliches Leben für lange Zeit unmöglich gemacht.
Mit dem Fall der Mauer war dieser Albtraum vorbei. Wer will es dem Volk verdenken, das am meisten darunter gelitten hat, dass es das Ende dieses Albtraums am härtesten gefeiert hat? Mit den 90ern brach in der westlichen Welt die Spaßgesellschaft aus. Die Leute haben sich um sich gekümmert und nicht um Politik. Wenn sie sich doch an die Politik wandten, dann weil diese
etwas für sie leisten sollte: „Kulturzentren“ schossen in die Landschaft, in denen Erwachsene ihre Kindheitsphase endlos verlängern konnten.
Doch mit den wirtschaftlichen Krisen von 2001 und 2008 brach die wirtschaftliche Basis der Spaßgesellschaft weg. Auf den Elften September folgte der Niedergang der Friedensordnung rund um Europa, die deren Bewohnern mit Ausnahme des zusammenbrechenden Jugoslawiens ein sicheres Jahrzehnt beschert hat. Bushs Kriege gegen Afghanistan und den Irak sowie Obamas Einsatz für Revolten in Nordafrika und Syrien destabilisierten dann aber den arabischen und persischen Raum. Die Wanderungsbewegungen von 2015 und heute sind eine mittelbare Folge davon.
Die Deutschen hätten die Spaßgesellschaft gerne fortgeführt. Nachvollziehbar. Aber unrealistisch. Die außenpolitischen Anforderungen waren da, auch wenn wir sie nicht wahrnehmen wollten: Karl-Theodor zu Guttenberg wurde in einen Skandal verwickelt, kurz nachdem er „Auslandseinsätze“ Kriege genannt hat. Bundespräsident Horst Köhler hatte offen darüber geredet, dass die „Auslandseinsätze“ dazu dienten, deutsche Wirtschaftsinteressen zu vertreten – und musste wenige Tage später zurücktreten. Der Deutsche wollte glauben, dass er die Freiheit am Hindukusch verteidigt, weil sich das viel besser anhörte als Wohlstand. Die Toten von Afghanistan versteckte das deutsche Fernsehen für ihn besser als das amerikanische Fernsehen nackte Busen.
Nach 2010 war der Wohlstand dann wieder da. Der weltweite Freihandel funktionierte ein Jahrzehnt lang. Deutschland profitierte davon besonders. Als Exportnation, und weil Gerd Schröder vor Angela Merkel unbeliebte und unbequeme aber nötige Reformen durchgesetzt hat. Wofür ihn die Deutschen aus dem Amt jagten. Für sie war die Spaßgesellschaft nicht vorbei: Der Staat sollte Transfergeld bezahlen, für jeden der es beantragte, Kulturzentren und fürs gute Gewissen sollte der Staat dann auch noch Fabriken schließen. Klima und so. Dass diese das Geld für die Spaßgesellschaft verdienen, wollten deren Teilnehmer nicht hören.
Scholz ist der Kanzler all derer, die immer noch nicht verstanden haben, dass die Spaßgesellschaft zu Ende ist. Faeser, Lauterbach oder Baerbock führen zu wollen, hat er aufgegeben. Dafür lässt er sich als Spaßkanzler feiern. Höhepunkt war die Inszenierung des Kanzlers mit der Augenklappe, nachdem er an der Aufgabe des Geradeauslaufens gescheitert war. Ein ironischer Post auf Twitter und die Politjournalisten lagen ihm zu Füßen: wie souverän. Einwanderung, Wirtschaftskrise, Energienot? Schweig still, Skeptiker, angesichts dieses coolen Kanzlers. Die Spaßgesellschaft war wieder ganz bei sich.
Die Bild inszeniert Scholz als Pöbel-Kanzler. Aber im Guten: Auf einer Kundgebung hatte Mister „Respekt für Dich“ Gegnern der Kriegspolitik vorgeworfen, sie kämen aus der Hölle. Die Bild ließ ihn zu Wort kommen: Wenn andere pöbelten, sei es ok, zurück zu pöbeln. Scholz führt zwar nicht. Intellektuell erreicht er mit seinen Botschaften auch niemanden. Aber hey. Für den Bild-Leser reichts, der denkt: Wenn mich eina dumm kommt, kann ich auch dumm – und das voll gut. Das ist eine Zielgruppe, die Scholz noch erreichen kann.
Letztlich lassen die Deutschen ihrem Regierungsoberhaupt sogar durchgehen, dass er sich nicht mehr erinnern kann. Der größte deutsche Steuerskandal: Er ist daran beteiligt, hat aktiv eingegriffen und will sich nicht mehr erinnern können. Die Deutschen nehmen es achselzuckend zur Kenntnis. Joseph Marie, Comte de Maistre hat recht: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.“
Bisher hat Scholz selten durchgegriffen. Er hat die Gasumlage seines „Wirtschaftsministers“ Robert Habeck (Grüne) gestoppt und ins Gegenteil verkehrt, als diese drohte, deutsche Privathaushalte und Unternehmen gleichermaßen zu zerstören. Er hat Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) entlassen, als die zu peinlich wurde und sich weigerte, die amerikanische Ukraine-Politik durchzusetzen. Und jetzt hat der Kanzler die Politik der gigantischen, Schulden finanzierten Investitionspakete beendet. Gegen den Willen seines Vizekanzlers.
Immer wenn es droht, komplett aus dem Ruder zu laufen, lenkt Scholz ein. Er erkennt, wann es gefährlich wird. Ob es Baerbock, Laschet oder Friedrich Merz besser machen würden als Kanzler, darf bezweifelt werden. Scholz ist schlau, durchblickt Situationen. Deswegen hat er 2021 auch verstanden, wie er Kanzler der Deutschen werden kann. Die wiederum haben über zwei Jahrzehnte zugeschaut, wie ein politisches Personal von der Qualität Baerbock, Lauterbach, Faeser, Christian Lindner (FDP), Hendrik Wüst… herangewachsen ist – und haben es hingenommen. Damit hat dieses Land eine Regierung verdient, in der ein Spaßkanzler mit Augenklappe der König ist. Ob Joseph Marie, Comte de Maistre ein Vordenker der Neuen Rechten war, soll die FAZ klären – ein guter Beobachter des Lebens war er allemal.