Wer Deutschland während einer Fahrt mit der S-Bahn kennenlernt, der erlebt ein Land mit verdreckten Zügen, in denen es kein Netzempfang gibt. Wer Deutschland kennenlernt, indem er Olaf Scholz (SPD) in der Generaldebatte im Bundestag zuhört, erlebt ein ganz anderes Land: ein Land, in dem die Digitalisierung flutscht und der öffentliche Nahverkehr attraktiv ist. Unter vielen anderen Vorzügen.
Die Rede des Kanzlers ist ein Spagat. Einerseits will er als geübter Schönredner das Bild eines Landes malen, in dem alles optimal läuft und bald noch optimaler. Andererseits braucht er die Hilfe der Länder und der Opposition. Deswegen muss er eingestehen, dass das fehlende Wachstum oder der Arbeitskräftemangel nicht nur super sind – und es angesichts der vielen nicht nur super Bedingungen eine große Anstrengung brauche.
Eine so große Anstrengung, dass der Sozialdemokrat plötzlich die Nation entdeckt: „Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung – lassen Sie unsere Kräfte bündeln“, sagt er in Richtung Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU). Er und die Länderchefs sollten bei einem „Deutschlandpakt“ mitmachen, mit dem das Land schneller, digitaler und leistungsfähiger werde. Übrigens gab es schon einmal einen „Deutschlandpakt“. Die NPD hat ihn 2005 mit der DVU geschlossen. Immer nur eine der beiden rechtsradikalen Parteien trat danach zu einer Wahl an.
An Scholz‘ Seite sitzt ein Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), von dem Zitate stammen wie: „Es gibt kein Volk.“ Oder: „Patriotismus, Vaterlandsliebe also, fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht.“ Dieser Habeck soll nun mit Scholz eine „nationale Kraftanstrengung“ und einen „Deutschlandpakt“ anführen?
Aber es ist Olaf Scholz, der da redet. Das Nationale ist nur eine Floskel, um über den Tag zu kommen. Der „Deutschlandpakt“ ein Schlagwort, das er unkritischen Journalisten zuwirft, die er damit für ein paar Monate von fehlendem Wachstum, abwandernden Firmen oder steigenden Preisen ablenken kann. Es brauche eine „Bereitschaft aller, an einem Strang zu ziehen“, sagt Scholz. „Natürlich auch in eine Richtung.“ Die „nationale Kraftanstrengung“ ist nicht mehr als eine Floskel, um CDU und Länder auf Linie zu bringen.
Es geht Scholz in der „nationalen Kraftanstrengung“ auch nicht um Bäcker, die Stundenzettel der Belegschaft minutiös führen und per Hand unterschrieben abgeben müssen. Um Bauunternehmer, die vom Auflagenwust befreit werden. Oder um Betriebsgründer, die steuerlich und bürokratisch entlastet werden. Es geht Scholz ausschließlich um das Lieblingsprojekt seines Koalitionspartners: Deswegen will er „die letzten Hürden beim Ausbau erneuerbarer Energien abbauen“. Es bleibt das einzige Thema, auf das er die „nationale Kraftanstrengung“ bezieht. So dürfte die Wortwahl auch für Habeck erträglich werden. Wenn der Patriotismus dem Vizekanzler hilft, seine Ziele durchzusetzen, kann er ihn auch mal hinnehmen, ohne zu „kotzen“.
Auch sonst bleibt Scholz‘ Rede voller Widersprüche. Merz hatte ihn kritisiert, weil er die „Zeitenwende“ nicht ernst nehme und das Geld aus dem schuldenfinanzierten „Sondervermögen“ für laufende Kosten verwendet. Was stimmt. Woraus Scholz macht, Merz kündige die Zeitenwende auf. Dass er das für die Aufrüstung gedachte Geld zweckentfremdet, darüber geht Schönredner Scholz hinweg.
Den Mangel an Arbeitskräften sieht Scholz durch das „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ behoben. Das hat dafür gesorgt, dass es keine Ungelernten mehr gibt. Denn es definiert auch jemanden ohne jede Ausbildung als Fachkraft. Sprachlich ist das genial. Doch an der Werkbank wird diese „Fachkraft“ scheitern. Wenn sie überhaupt dorthin geht. Die Zahl der erwerbsfähigen Empfänger von Bürgergeld ist auf 3,9 Millionen Menschen gestiegen – ihre Bezüge hat die Ampel innerhalb eines Jahres um 25 Prozent erhöht. Zur illegalen Einwanderung sagt Scholz: „Wer kein Aufenthaltsrecht hat, muss Deutschland natürlich verlassen.“ Nun wäre es Delegitimierung des Staates zu behaupten, dass der Kanzler lüge. Dass seine Aussagen im krassen Widerspruch zur Realität stehen, ist aber erlaubt. Vorerst noch.
Scholz will den Aufbruchkanzler geben: „Die Bürger sind Stillstand leid – und ich bin es auch.“ Er werde für einen Aufbruch sorgen, mit einer digitalen Infrastruktur, die zu den besten in Europa zählt. Einer Verwaltung, die den Menschen unter die Arme greift, statt sie zu gängeln und eine Bahn, die pünktlich fährt. Olaf Scholz hat einen Verbündeten: Journalisten, die unter dem Label „Deutschlandpakt“ diese Botschaft unkritisch ins Land tragen werden. Scholz hat aber auch einen Gegner: die Realität. In der verspätet sich die Bahn, streikt der Netzempfang und sind deutsche Behörden deutsche Behörden.