Tichys Einblick
Studie zur schmelzenden Mittelschicht

OECD empfiehlt Deutschland: Die Einkommenssteuer muss sinken

Die Mittelschicht schrumpft in Deutschland bedenklich. Vor allem junge Leute und Frauen sind davon bedroht. So die Ergebnisse einer OECD-Studie. Um die Mittelschicht wieder zu stärken wären tief greifende Reformen nötig und an manchen Stellen ein Richtungswechsel.

Robert Habeck und Christian Lindner

picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Die Mittelschicht ist nicht allein über das Geld bestimmt: Ein Haus besitzen, sich an die Regeln halten oder das Zusammenleben auch mal uneigennützig fördern. Das räumen die Autoren der OECD-Studie „Is the German Middle Class crumbling? Risks and Opportunities“ ein. Doch solche Attitüden lassen sich nur schwer messen. Deswegen macht die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Zugehörigkeit am verfügbaren Einkommen fest. Demnach gehört eine Familie mit vier Köpfen zur Mittelschicht, wenn ihr 3.000 bis 8.000 Euro Einkommen monatlich zur Verfügung stehen – ein Single bei einem Einkommen zwischen 1.500 und 4.000 Euro. Das entspricht 75 bis 200 Prozent des durchschnittlichen Netto-Einkommens.

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Noch steht Deutschland im Vergleich mit anderen OECD-Ländern gut da. In Deutschland gehörten vor drei Jahren 64 Prozent der Menschen der Mittelschicht an, im OECD-Schnitt waren es da nur 62 Prozent. Mit den wirtschaftlich insgesamt guten Jahren ab 2015 hat sich die Schmelze der deutschen Mittelschicht verlangsamt. In den deutschen Krisenjahren zwischen 1995 und 2005 war das Tempo deutlich höher. 1995 gehörten in Deutschland noch 70 Prozent der Mittelschicht an.

Allerdings haben die Schichten von den guten Jahren unterschiedlich profitiert: Während die Einkommen der obersten zehn Prozent in diesen Jahren um 28 Prozent gestiegen sind, waren es bei den untersten zehn Prozent nur 7 Prozent Einkommenssteigerung. Allerdings hat sich dieser Effekt durch die staatlichen Leistungen während der Pandemie vermindert. Wie stark diese Verminderung ist, konnten die Autoren nach eigenen Angaben noch nicht in die Studie einbauen.
Paare sind in der Mittelschicht relativ gesehen stärker vertreten als noch 1995. Singles sind entsprechend vom Abstieg öfters betroffen. Das gilt vor allem für Frauen. Denn sie sind oft in Berufen tätig, die schlecht bezahlt sind. Etwa in der Pflege. Auch arbeiten Frauen deutlich häufiger in Teilzeit, als dies Männer tun. Jüngere Arbeitnehmer rutschen laut OECD doppelt so oft aus der Mittelschicht wie ältere Arbeitnehmer.

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„Die Mittelschicht“ ist keine uniforme Gruppe. In dieser Schicht gibt es kleinere und größere unterschiedliche Gruppierungen. Eine wesentliche Unterscheidung: Ein Teil der Mittelschicht zahlt deutlich mehr in die staatlichen Systeme ein, als sie erhalten: also Steuern, Gebühren oder Kranken- und Rentenversicherung. Der andere Teil erhält aus diesen Kassen mehr Transfergeld, als er selbst einzahlt. Im Wesentlichen ist das ein Unterschied zwischen Erwerbstätigen, die mehr einzahlen und nicht mehr Erwerbstätigen, die mehr erhalten.

Diese Konstellation erschwert der Mittelschicht, ihre Funktion zu erfüllen und den Staat wirtschaftlich zu stablisieren, mahnt die OECD in der Studie. Denn entsprechend der demographischen Entwicklung schmilzt der Anteil der Jungen an der Gesellschaft und folglich auch der Anteil derer, die unterm Strich in die staatlichen Systeme einzahlen. Die Mittelschicht ist zudem noch stärker gealtert, als es der Rest der Gesellschaft im Schnitt ist. Zuwanderung hat diese Situation nicht entschärft. Es dauere voraussichtlich länger, bis die Zuwanderer der Jahre 2015 bis 2020 sich in den Mittelstand hoch gearbeitet haben, vermuten die Autoren der Studie. Eine Prognose darüber, ob sie es überhaupt schaffen, wagen sie nicht.

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Die Alterung der Gesellschaft ist nicht die einzige Entwicklung, die Druck auf die Mittelschicht ausübt: Die Kosten des „Kampfs gegen den Klimawandel“ ist ein weiterer Faktor. Vor allem aber bedroht die Digitalisierung die Mittelschicht: In vielen Bereichen werden – so die Prognose der OECD – heutige Arbeitsplätze verloren gehen, weil sich die jeweilige Aufgabe digital besser erledigen lässt. Das führt im geringeren Maße dazu, dass sehr anspruchsvolle und entsprechend gut bezahlte Jobs entstehen. Ihre Inhaber verlassen die Mittelschicht nach oben. Der weitaus größere Teil rutscht aber aus der Mittelschicht raus, weil er entweder arbeitslos wird oder einen neuen Job übernehmen muss, der nicht so gut bezahlt wird wie der alte.

Für die OECD ist das eine gefährliche Entwicklung: „Die Mittelschicht ist ein wesentlicher Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Eine breite Wohlstandsbasis hierzulande sorgt für eine starke Binnennachfrage, ist attraktiv für inländische wie ausländische Investitionen und lässt Innovationspotenziale zur Entfaltung kommen“, so übersetzt die Bertelsmann-Stiftung die englischsprachige OECD-Studie ins Deutsche. Eine leistungsfähige Mittelschicht erbringe demnach den Großteil des Steueraufkommens und trage somit wesentlich zur Handlungsfähigkeit des Staates bei. Angehörige der Mittelschicht investierten in ihre Bildung – auch über den Berufseinstieg hinaus – und steigern damit sowohl ihre eigene Leistungsfähigkeit als auch die Wachstumspotenziale der Wirtschaft. Kurzum: „Eine stabile Mittelschicht sorgt für Vertrauen in demokratische Institutionen und damit auch für die Bereitschaft, sich in die Gestaltung des Systems einzubringen.“ Gesellschaftliche Fliehkräfte würden im Zaum gehalten.

Zumal ein Prekariat droht, wenn die Mittelschicht weiter schmilzt. Der Aufstieg in diese Schicht wird nämlich generell schwerer, „Armutsvererbung“ drohe. Seit 1995 habe sich die Chance zum Aufstieg um zehn Prozentpunkte verschlechtert, hat die OECD ermittelt. Wer heute – etwa wegen Jobverlusts – aus der Mittelschicht falle, werde kaum zurückkehren.

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Die Entwicklung ließe sich stoppen, sagt die OECD. Allerdings braucht es dafür einschneidende Reformen in mehreren Politfeldern. Und Geld. Viel Geld. In den Merkel-Jahren sei ein Investitionsstau in Sachen Infrastruktur entstanden. Der Staat müsse investieren: Bahnlinien, Straßen, digitaler Empfang und auch in Bildungsstrukturen. Derzeit genießen die Deutschen in jungen Jahren eine lange Ausbildung, haben dann aber im Berufsleben wenig Möglichkeiten sich weiterzubilden. Zumindest letzteres muss sich laut OECD umkehren: Staat und Wirtschaft müssten für mehr Angebote der Erwachsenenbildung sorgen, Arbeitnehmer müssten die Chance erhalten, diese auch wahrzunehmen – etwa durch Bildungsurlaub, auch mal ein ganzes Jahr lang. Nur so blieben sie in der Lage, anspruchsvollere und entsprechend besser bezahlte Stellen besetzen zu können.

Wer in Deutschland fordert, in Infrastruktur zu investieren und mehr Bildungsangebote zu machen, verbindet dies meist mit der Forderung nach Steuererhöhungen. Das ist aber falsch, sagt die OECD. Schon jetzt werde die Mittelschicht in Deutschland im internationalen Vergleich zu stark belastet. Das verringert zum einen das verfügbare Einkommen und wirkt sich zum anderen negativ auf die Motivation der Mitglieder der Mittelschicht aus, wirtschaftlichen Aufstieg durch Arbeit schaffen zu wollen. Die OECD schlägt vor, Konsum und Besitz stärker zu besteuern – und im Gegenzug die Arbeit steuerlich zu entlasten.

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Neben der Bildung sieht die OECD den Pflegebereich als möglichen Jobmotor in Deutschland. Schon jetzt gebe es einen Mangel an qualifiziertem Personal, gleichzeitig steigt der Bedarf in einer alternden Gesellschaft. Damit die Branche aber zum Jobmotor werden kann, ohne dass die Mittelschicht weiter schmilzt, müssten diese Berufe attraktiver werden: höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und weniger zeitlich befristete Arbeitsverträge. Die Benelux-Staaten und die skandinavischen Länder würden relativ gesehen mehr Geld in die Pflege investieren als Deutschland, mahnt die OECD.

Stärkt der Staat die Pflege, profitieren davon im wesentlichen Frauen. Denn sie sind in dem Beruf besonders stark vertreten. Für sie müsste dann auch die Kinderbetreuung verbessert werden. Das gilt auch für andere Berufsfelder als die Pflege. Trotz aller Sternchen, Punkten, Bindestrichen, Querstrichen und Phantasieformulierungen beim Gendern sind es in der wirtschaftlichen Realität immer noch die Frauen, die darunter leiden, wenn die staatliche Kinderbetreuung schwächelt. In diesem Bereich hat Deutschland in den vergangenen Jahren investiert. Dass die Mittelschicht in den letzten fünf Jahren weniger stark geschmolzen ist, führt die OECD in der Studie unter anderem darauf zurück.

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