Der SPD-Politiker Serdar Yüksel stellte ein kleine Anfrage an die NRW-Landesregierung: „Wie ist es um die Sicherheit türkeistämmiger regierungskritischer Exilanten in Deutschland bestellt?“ Anlass und Hintergrund ist die vor kurzem erfolgte Drohung des türkischen Geheimdienstes (MIT) gegen den renommierten Politologen und Türkei-Experten Burak Çopur.
Burak Çopur ist ein bekannter Erdogan-Kritiker. Während der NRW-Kommunalwahl 2020 engagierte sich Çopur besonders gegen die Unterwanderung deutscher Parteien durch Erdogan-Lobbyisten – was wohl in Ankara übel aufstieß. Im September wurde seitens der türkischen Regierung ein Versuch unternommen, den deutschen Türkei-Experten einzuschüchtern. Der türkische Geheimdienst bedrohte seine in der Türkei lebenden Eltern per Telefon. Ein Geheimdienstmitarbeiter habe seinen Eltern mitgeteilt, dass es eine Akte über Çopur gäbe. Er solle es unterlassen, von Deutschland aus Erdogan-kritische oder pro-kurdische Aussagen in der Öffentlichkeit zu tätigen. Auch wurde Çopur medial von Erdogan-Lobbyisten angegriffen, die der AKP-Lobbyorganisation UID „Union Internationaler Demokraten“ – vorher als UETD bekannt – angehören.
Gewaltbereite türkischen Nationalisten und Erdogan-Anhänger
Beleidigungen und Bedrohungen gegen türkische Oppositionelle über soziale Netzwerke seien den Sicherheitsbehörden bekannt, heißt es in der der Antwort des Innenministers Herbert Reul (CDU). Mann könne nicht ausschließen, dass sich „emotionalisierte Anhänger der türkischen Regierung bzw. türkische Nationalisten berufen fühlen, gegen Oppositionelle vorzugehen und dabei auch Gewalt anzuwenden.“
Wenn also vor allem AKP- und Erdogan-Lobbyisten in den deutschen sozialen Medien oder etwa der gleichgeschalteten Plattform TRTDeutsch gegen Regierungskritiker hetzen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie damit türkische Nationalisten indirekt zu Gewalt anstacheln.
Die „Union Internationaler Demokraten“ ist die Lobby-Organisation der türkischen Regierungspartei AKP und des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Der Verfassungsschutz ordnete 2018 die UID als eine nationalistische Organisation ein, die unvereinbar mit der freiheitlich-demokratischen Ordnung sei, weshalb die Organisation unter Beobachtung steht.
„Die Entwicklung ist dynamisch“ – Gefahr steigt
Reul sagt in seiner Antwort, es sei festzustellen, dass eine wachsende Anzahl von Staaten „deutlich robuster“ agiere als zuvor. „Einschüchterungen, Bedrohungen und der Einsatz von Gewalt gegen Oppositionelle werden außerhalb der eigenen Landesgrenzen zunehmend als legitimes Mittel betrachtet. Die Entwicklung ist dynamisch, die Grenze dessen, was hinsichtlich des nachrichtendienstlichen Vorgehens als opportun angesehen wird, verschiebt sich.“
In einem hohem Maße widme sich der türkische Geheimdienst der Ausspähung von Oppositionellen, und Deutschland, insbesondere Nordrhein-Westfalen, sei das „vorrangige Aufklärungsziel“ außerhalb der Türkei. Primär im Fokus stünden Gruppierungen, die von der türkischen Regierung als „extremistisch“ oder „terroristisch“ definiert werden. Darunter: Die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), die „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C), die „Marxistische Leninistische Kommunistische Partei“ (MLKP) und die Gülen-Bewegung. Darüber hinaus bestehe „ein großes Aufklärungsinteresse an Vereinigungen und Einzelpersonen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen türkischen Regierung stehen.“
Einzelpersonen geraten in „operativen Fokus“
Besonders Brisant ist, dass bei einzelnen Regierungskritikern eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, in einen „operativen Fokus“ zu geraten:
„Bei in Nordrhein-Westfalen lebenden Angehörigen der oben genannten Organisationen sowie regierungskritischen Einzelpersonen ist daher grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, dass diese in den operativen Fokus des MIT geraten.“
MIT dient unmittelbar der türkischen Regierungspolitik
Vor allem in seiner letzten Antwort findet der Innenminister deutliche Worte für die Funktion des türkischen Geheimdienstes, welche in solcher Offenheit nicht oft bei Politikern zu finden sind. Demnach nehme der türkische Geheimdienst in der „türkischen Sicherheitsarchitektur eine herausgehobene Stellung ein“. Er sei ausgestattet mit Exekutivbefugnissen, die 2014 und 2017 noch erheblich ausgeweitet wurden. „Seit 2017 ist der MIT direkt dem türkischen Staatspräsidenten unterstellt. Insofern dient der MIT unmittelbar der Durchsetzung der türkischen Regierungspolitik. Anders als mitunter medial dargestellt, verfügt der MIT nicht über bis zu 8.000 Mitarbeiter in Deutschland. Vielmehr handelt es sich bei dieser Zahl nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes um die Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter des MIT im In- und Ausland insgesamt.“ Die Dunkelziffer der türkischen Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland muss also viel höher liegen.
Einfluss auf Meinungsbildung in Deutschland
Der türkische Geheimdienst unterhält Reul zufolge Residenturen – Vertretungen der Geheimdienste im Ausland – „in unterschiedlichen offiziellen Repräsentanzen der Türkei in Deutschland“. Sie würden hier Stimmungs- und Lagebilder fertigen. Auch versuchen sie, gezielt über die türkische Gemeinde und darüber hinaus Einfluss auf die Meinungsbildung hierzulande zu nehmen. Weitere Werkzeuge des türkischen Staates neben dem MIT, seien die UID, die DITIB und die nationalistische Ülkücü-Bewegung (Graue Wölfe). Dadurch habe die türkische Regierung vielfältige Möglichkeiten der politischen Einflussnahme.
„UID und DITIB versuchen dabei, einen eigenständigen und unabhängigen Charakter ihrer Organisationen hervorzuheben und die Verbindungen und Abhängigkeitsverhältnisse zur Türkei herunterzuspielen.“
Reuls Antwort widerspricht der Logik Seehofers
Reul zufolge sei sogar ein Einsatz des MIT oft gar nicht nötig, da Organisationen wie DITIB selbst geheimdienstliche Aufgaben übernehmen. Es sei belegt, dass DITIB-Imame von der staatlichen türkischen Religionsbehörde Diyanet über die türkischen Generalkonsulate beauftragt werden, Informationen über zum Beispiel Gülen-Angehörigen zu übermitteln.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) will die Imam-Ausbildung durch das neu gegründete „Islamkolleg Deutschland“ (IKD) auf deutschen Boden und in deutscher Sprache möglich machen. Seehofer bezeichnet dies als Erfolg. Die DITIB macht jedoch nicht bei Seehofers Experiment mit. Aber entscheidend ist: Selbst wenn die DITIB mitmachte, würde dies faktisch nichts ändern. Die DITIB untersteht der türkischen Regierung; Imame, die nicht durch die DITIB ausgebildet werden, aber dann für DITIB-Einrichtungen arbeiten, sind trotzdem den Zwängen des türkischen Staates unterlegen – sie müssen die Anweisungen der türkischen Regierung, ja die des türkischen Präsidenten Erdogan, erfüllen.