Wieder eine neue These über die Sprengung der Nord-Stream-Pipeline – und wieder wird von einer Regierung, die als Auftraggeber in Frage kommt, dementiert. Journalistische Recherchen der New York Times (NYT) und deutscher Medien behaupten jetzt: Womöglich hat eine pro-ukrainische Gruppe drei von vier Strängen der Pipelines auf dem Grund der Ostsee in der Nacht zum 26. September 2022 durch Explosionen zerstört.
Aus Kiew heißt es: Die ukrainische Regierung habe nichts damit zu tun. In Moskau sieht man die neue These als Ablenkungsmanöver. Sie sei von jenen gestreut, „die im Rechtsrahmen keine Untersuchungen führen wollen und versuchen, mit allen Mitteln die Aufmerksamkeit des Publikums abzulenken“, schrieb die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa auf Telegram. Moskau macht für den Anschlag die Geheimdienste der USA und Großbritannien verantwortlich, wie es auch der US-Journalist Seymour Hersh tut.
Wenig überraschend auch die Zurückhaltung in der Bundesregierung. Außenministerin Annalena Baerbock verfolgt zwar, wie sie sagt, „alle Berichte und auch alle Erkenntnisse, die es von unterschiedlichen Akteuren gibt, ganz, ganz (sic) intensiv“, aber vor einer Bewertung müssten erst die zuständigen Behörden ihre Ermittlungen zu Ende führen. Und von denen ist bislang nichts zu hören. Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius bleibt im Vagen. Er erwähnt ausdrücklich die Möglichkeit einer „False-Flag-Aktion“, durch die den Ukrainern etwas in die Schuhe geschoben werden könnte, was sie nicht getan haben: „Die Wahrscheinlichkeit für das eine wie für das andere ist gleichermaßen hoch“, erklärt Pistorius. Es helfe auch nicht, „auf der Grundlage von solchen Recherchen, die bestimmt mühsam und akribisch gemacht worden sind, jetzt darüber nachzudenken, welche Auswirkungen das auf unsere Unterstützung für die Ukraine hätte.“
Die New York Times beruft sich auf ungenannte amerikanische Offizielle, die über neue Geheimdiensterkenntnisse verfügten. Dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj oder Vertraute von ihm an der Aktion beteiligt gewesen seien oder die Täter im Auftrag der Kiewer Regierung handelten, könne nicht bewiesen werden und sei unklar. In einem anderen, aber zu dem der NYT passenden Bericht der ARD und der Zeit, die sich auf deutsche Ermittler berufen, heißt es, man habe ein konkretes Boot identifiziert, mit dem die Anschläge durchgeführt worden sein sollen: eine Yacht, die von einer Firma in Polen gemietet worden sein. Sie soll zwei Ukrainern gehören. ARD und Zeit schreiben von „Spuren“ in die Ukraine, schließen aber eine „False-Flag-Operation“ nicht aus. Bei einer solchen werden bewusst falsche Fährten zu anderen potenziellen Verdächtigen gelegt. Auf eine Anfrage habe der ukrainische Präsidentenberater Michail Podolyak erklärt, die Ukraine habe „natürlich nichts mit den Anschlägen auf Nord Stream 2 zu tun“.
Da die Anmietung mit gefälschten Reisepässen erfolgte, sei die Nationalität der Täter unklar, heißt es in dem ARD/Zeit-Bericht. Man wisse aber, dass die Gruppe aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin bestand. Das Boot soll am 6. September 2022 von Rostock aus in See gegangen und am nächsten Tag in Wieck (Darß) und später bei der dänischen Insel Christiansø festgestellt worden sein. ARD und Zeit berichten, die Yacht sei bei der Rückgabe ungereinigt gewesen sein, weshalb die Ermittler noch Spuren von Sprengstoff hätten nachweisen können.
Die NYT schreibt, auch den eigenen Quellen in den amerikanischen Behörden seien viele Details noch unklar. Allerdings will man wissen, dass die Täter eine Gruppe von Gegnern des russischen Machthabers Wladimir Putin sei. Die Quellen halten es für möglich, dass die Täter Ukrainer oder (Putin-feindliche) Russen oder eine Mischung aus beiden seien.
Die amerikanischen Quellen widersprechen also eindeutig der Hersh-These: Amerikaner oder Briten waren demnach nicht beteiligt. Ihre Erklärung für die fachlichen Fähigkeiten der ukrainischen und/oder russischen Putin-Feinde: Der Sprengstoff sei „mithilfe von erfahrenen Tauchern“ angebracht worden, die „dem Anschein nach nicht für Militär oder Geheimdienste arbeiteten“, aber möglicherweise früher spezielle Ausbildungen einer Regierungsorganisation erhalten hätten.
Die NYT schreibt, dass weder der US-Geheimdienst CIA noch das Weiße Haus den Bericht kommentieren wollten, ebensowenig mehrere betroffene Regierungen in Europa.