Tichys Einblick
Meister der Macht-Ökonomie

Das Neun-Euro-Ticket hilft nicht den Bürgern, sondern der Ampel

Das Neun-Euro-Ticket ist eine vorbestellte Erfolgsmeldung. Damit ist es Ausdruck für eine Politik, in deren Mittelpunkt nicht mehr ihr Nutzen für die Allgemeinheit steht – sondern für das Ansehen der Verantwortlichen. Sachlich sinnvoll wäre eine Absenkung oder gar Abschaffung der Mehrwertsteuer.

IMAGO / Aviation-Stock

In der Demokratie gibt es so etwas wie Macht-Ökonomie. Der Politiker, der sich ihrer bedient, stellt sich nicht die Frage, ob ein Beschluss sinnvoll ist – sondern ob der Beschluss ihm hilft. Oskar Lafontaine wusste zum Beispiel als Ministerpräsident, dass der Bergbau im Saarland keine Zukunft hat. Aber wenn er das öffentlich sage, werde er nicht wiedergewählt, erklärte er der Landespressekonferenz in Hintergrundgesprächen.

Sozialdemokraten sind Meister im Fach der Macht-Ökonomie. Aus dieser Perspektive heraus haben sie das Neun-Euro-Ticket entwickelt. Denn es wird schon bald für Erfolgsmeldungen sorgen. Ganz einfach: Weil es eine teure Ware durch den massiven Einsatz von Steuern zu Bedingungen anbietet, zu der es der Markt nicht anbieten kann, weil die Kosten nicht refinanziert werden müssen.

Drei Monate gibt es das Neun-Euro-Ticket: von Juni bis August. Wer es für die volle Zeit kauft, zahlt 27 Euro. Eine einzelne Fahrt von Saarbrücken nach Frankfurt am Main kostet 42 Euro. Zweite Klasse. Im Regionalverkehr. In den Städten kosten Kurzstreckentickets für Busse und Straßenbahnen bereits 2 Euro. Für Monatskarten nehmen die Betriebe schnell dreistellige Summen. Die Stadt Mainz will jetzt die Biontech-Steuereinnahmen nutzen, um das 365-Euro-Ticket einzuführen. Doch selbst dieser querfinanzierte Spaß würde den Verbraucher immer noch dreimal so viel kosten wie das Neun-Euro-Ticket.

Folglich werden viele sich das Neun-Euro-Ticket kaufen. Vermutlich wird das schon am Pfingst-Wochenende losgehen, das Anfang Juni liegt. „Neun-Euro-Ticket ein Riesenerfolg“, lässt sich daraus als Schlagzeile ableiten. Zumindest wenn man intellektuell einfach gestrickt ist, nicht nachfragen und die Regierung eher unterstützen als kritisieren will, also kurz: wenn man ARD oder ZDF ist.

Die Vertreter der Ampel nehmen diese Schlagzeile dann gerne mit durch Zeiten, die von schlechten Nachrichten geprägt sein werden. Es gäbe ja auch Gutes, mit dem Neun-Euro-Ticket helfe man den Menschen, lässt sich auf die schlechten Nachrichten erwidern. Macht-ökonomisch wird die Aktion ihren Zweck erfüllen. Aber danach?

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Lafontaine hat seine Unehrlichkeit in Sachen Bergbau geholfen: Er verlor als Ministerpräsident im Saarland keine Wahl, wurde Kanzlerkandidat, SPD-Bundesvorsitzender und schließlich „Superminister“ im Bund. Den Preis dafür hat das Bundesland getragen, für das er Verantwortung hätte übernehmen sollen. 1919 und 1945 war das Saarland wirtschaftlich so bedeutend, dass die Alliierten es vom übrigen Deutschland trennten. Heute ist es wirtschaftlich so marode, dass es ohne die Hilfe des übrigen Deutschlands nicht leben könnte – und seine Abhängigkeit wächst weiter.

Das Neun-Euro-Ticket beschert den Verbrauchern einen kurzfristigen Gag. Billig an den Bodensee kommen, ins Sauerland oder halt nach Sylt. Das ist zum Symbol geworden für die Idee, mit dem Neun-Euro-Ticket in die Urlaubsgefilde der Reichen vordringen zu können. Ein wenig Sozialneid schüren, obwohl man selbst aus Steuertöpfen gut verdient? Menschlich ist das fürchterlich. Aus Sicht der Macht-Ökonomie scheint es für die Ampel-Parteien sinnvoll zu sein.

Doch danach? Danach gelten die gleichen Preise wie vorher. Wer täglich pendeln muss, für den bedeutet es meist überhaupt keine oder zumindest keine nennenswerte finanzielle Einsparung, Bus und Bahn statt das eigene Auto zu nehmen. Dafür verlängert sich die Anfahrt. Zeitlich. Wer nicht an einer Direktverbindung von der Wohnung zum Arbeitsplatz lebt, der ist schnell bei großen Unterschieden. Ein Beispiel: Lebt jemand in Mainz-Weisanau und arbeitet in Trebur, schafft er die Strecke mit dem Auto von Wohnung zu Firma selbst in zähflüssigem Verkehr in weniger als einer halben Stunde. Nimmt er öffentliche Verkehrsmittel, sind es schnell zwei Stunden. Anderthalb Stunden Unterschied. Zweimal am Tag. Zehnmal die Woche. Über 400-mal im Jahr. Mehr als 20 ganze Tage seines Jahres bringt ein Pendler dann zusätzlich für seinen Arbeitsweg auf, wenn er auf den öffentlichen Nahverkehr setzt.

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Vorausgesetzt, der öffentliche Nahverkehr ist pünktlich. Doch zumindest die Bahn ist es nicht: Laut Statistischem Bundesamt hatte 2021 jeder vierte Zug mehr als sechs Minuten Verspätung. Wohlgemerkt ist das eine Statistik, die auf Angaben der Bahn beruht. Zu wenig in Fahrzeuge investiert, zu wenig in die Sicherungstechnik, begründet das Bundesamt die systematischen Verspätungen. Fernbusse waren laut Statistischem Bundesamt 2019 in mehr als jedem dritten Fall um mehr als 16 Minuten verspätet. Die regionalen Busse und Straßenbahnen sind statistisch schwer zu vergleichen, da die Zahlen auf den Angaben der regionalen Gesellschaften beruhen – deren Verantwortliche kennen sich mit Macht-Ökonomie oft besser aus als mit Ehrlichkeit.

Für Berufspendler, die umsteigen müssen, sind solche Verspätungen heikel: Verpassen sie durch die Verspätung den Anschluss, kommt zur eigentlichen Verspätung noch einmal die Zeit dazu, die sie zusätzlich an einer Haltestelle stehen müssen. Angesichts von Komfort und Sicherheit der Haltestellen keine schön genutzte Zeit.

Kommt noch das Angebot dazu. Das werde ausgebaut. Zumindest versprechen das deutsche Politiker so konstant wie den Abbau bürokratischer Hürden für die Wirtschaft. Doch in beidem gibt es kein Vorankommen. Obwohl Geld für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs da wäre. Allein der Bund gibt dafür jedes Jahr eine zweistellige Milliardensumme aus. Doch das Geld komme nicht an, kritisierte jüngst der Bundesrechnungshof: „In diesem Förderdschungel verstrickt sich der Bund, ihm fehlt ein vollständiger Überblick. Das schwächt den ÖPNV“, sagte der Präsident des Rechnungshofes Kay Scheller der Rheinischen Post.

Es gibt ein Bedürfnis nach öffentlichem Nahverkehr. Grundsätzlich. In der Pandemie sind die Fahrgastzahlen laut Statistischem Bundesamt zwar zurückgegangen. Doch davor nahm die Zahl der „Fahrten je Einwohner“ zwischen 2009 und 2018 von 131 auf 141 im Jahr zu, wie der „VDV“ mitteilt, der Dachverband der Verkehrsunternehmen. Wobei die Nutzung von S- und Straßenbahnen eher zugenommen habe als die von Linienbussen, die schon vor Corona nur konstant war.

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Eine sachorientierte Politik, die den öffentlichen Nahverkehr stärken will, würde zum einen das Angebot ausbauen: moderne, klimatisierte Busse kaufen, in die Sicherheit von Schienen investieren, zusätzliche Schienen legen, Anreize setzen, damit der öffentliche Nahverkehr ökonomisch sich weitgehend selbst trägt – und dann für nicht vermeidbare Defizite aufkommen. Sodass der Bürger, der umsteigen will, über ausreichende und bezahlbare Angebote verfügt. Doch das ist sachorientiert gedacht.

Nur denkt die Politik des Jahres 2022 nicht sachlich, sondern Macht-ökonomisch. Für ein System, das funktioniert, so ihr Kalkül, erhalten sie keine Schlagzeile. Für das Neun-Euro-Ticket schon. Sie verhalten sich zu ihren Bürgern wie Eltern, die ihren Kindern keine eigenständige Finanzführung zutrauen: Sie lassen ihnen genug Geld fürs Nötigste, den Rest regeln sie über Geschenke zum Geburtstag, Weihnachten oder wenn das Kind besonders artig war. Für diese Geschenke werden sie dann sogar von den Kindern gefeiert.

Für Familien ist dieses Modell auch okay. Doch zum einen sind Bürger keine unmündigen Kinder. Und zum anderen erwirtschaften in Familien die Eltern das Geld und die Kinder geben es nur aus – im Staat ist es umgekehrt. Es liegt also an den Staatskindern: Wollen sie weiter Mehrwertsteuern zahlen, die zusammen mit den Preisen im Einzelhandel explodieren und wollen sich dafür weiter mit Geschenken abspeisen lassen? Von einem Staat, der willkürlich entscheidet, wann seine Bürger günstig und wann überteuert fahren. Oder wollen diese Bürger mündig werden und eine Senkung der Mehrwertsteuer verlangen? Oder gar ihre Abschaffung? Macht-Ökonomie verändert sich. Mit der Forderung, den Bergbau erhalten zu wollen, lassen sich heute keine Wahlen mehr gewinnen. Also stellt sie auch keiner mehr auf. Und was aus Oskar Lafontaine wurde, ist bekannt.

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