Kein TE-Leser möge davon abgehalten werden, sich zwischen einem zweifachen Genuss von „Dinner for One“ die aktuelle Neujahrsansprache von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Bildschirm oder im Originaltext zu gönnen. Wir haben sie uns „gegönnt“ und stellen im Sinne des „Dinner-for-One“-Mottos „Same procedure as every year“ fest: Die 2022er Ansprache fügt sich nahtlos ein in das vertraute Anspruchsniveau der 16 Merkel-Neujahrsansprachen, einer ersten Scholz-Ansprache 2021 und der sechs Steinmeier-Weihnachtsansprachen. Dabei wäre gerade das Krisen- und Kriegsjahr 2022 Anlass genug gewesen, einige Dinge mal etwas kritischer, zumindest ehrlicher zu reflektieren.
Manches, was Scholz an Deutschland und an seiner Regierung lobt, ist aber nicht von dieser Welt. Zum Beispiel, wenn er sagt: „Tapfer verteidigen die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Heimat – auch dank unserer Hilfe. Und wir werden die Ukraine weiter unterstützen.“ Wie bitte!? Der erste Teil des Satzes stimmt, der zweite nicht. Kaum ein Land der EU und der Nato ziert sich seit 300 Tagen in so erbärmlicher Weise, der Ukraine auch militärisch zu helfen, wie Deutschland. Oder wenn Scholz die „Soldatinnen und Soldaten“ dafür lobt, dass sie trainieren, „um unser Land, unsere Freunde und Alliierten gegen alle Bedrohungen zu verteidigen“. Auch hier ein „Wie bitte?“: Die Bundeswehr ist ja nicht einmal materiell in der Lage, Nato-Verpflichtungen einzugehen. Wenn sie etwa 2023 erstmals Rahmennation des Spezialkräftehauptquartiers der VJTF (Very High Readiness Joint Task Force) und damit Speerspitze der „NATO Response Force“ sein soll. Oder wenn Scholz sagt: „Die Europäische Union und die NATO stehen nicht gespalten da, wie in manch früherer Krise. Sondern so geeint wie lange nicht.“ Naja, großes Vertrauen setzt man von dort nicht in die Deutschen, auch nicht, was das Thema Energiesicherheit, Migration usw. betrifft.
Klar, nicht alles kann man in eine Neujahrsansprache hineinpacken. Aber symptomatisch ist es doch, welche Themen Scholz umschifft. Dafür bemüht sich Scholz wahrlich redlich, halbwegs geschlechterneutral zu sprechen. Irgendein „woker“ pseudo-linguistischer Genderist hat ihm wohl eingeredet, dass der Gender-Glottisschlag in „Bürger*innen“ oder „Bürger:innen“ zwar nicht so gut ankommt, man aber geschlechterneutral wirkt, wenn man abwechselnd mal den maskulinen und mal den femininen Plural verwendet. Wie wir wissen, hat Scholz ohnehin Probleme „Bürgerinnen und Bürger“ auszusprechen, denn meistens kommt nur „Bürger und Bürger“ herüber. Aber hier dreht Scholz echt auf, wenn er von folgenden Berufsgruppen spricht: „unsere Ingenieurinnen und Facharbeiter“, Facharbeiterinnen und Techniker“, „Schornsteinfegerinnen und Installateure“.
Die gängige Presse scheint dennoch beeindruckt von der Scholz-Ansprache, wenn sie titelt: „Ein starkes Land“ (ARD), „Ein schweres Jahr geht zu Ende“ (ZDF), „Ein Land, das sich unterhakt“ (ZEIT), „Zusammenhalt ist unser größtes Pfund“ (BILD), „Olaf Scholz bittet weiter darum, Energie zu sparen“ (WELT) „Scholz ermuntert zu Zuversicht“ (dpa und zahlreiche Regionalzeitungen).
TE-Leser sollten sich die Ansprache aber doch in Gänze antun. Sie ist symptomatisch für die Art und Weise, wie dieses Land nebulös und dilettantisch regiert wird. Jetzt (12 Uhr) schon im Livestream oder im Text.