Rechenfehler sind derzeit en vogue. In Bayern kommt man auf abenteuerliche Ungeimpften-Inzidenzen, weil man mit den Zahlen jongliert. Die EZB behauptete noch vor ein paar Wochen, die Inflation sei zu niedrig, jetzt gibt Direktorin Isabel Schnabel zu, dass die hohe Inflation bleiben könnte. Während Ex-Wirtschaftsminister Peter Altmaier jahrelang behauptete, der Strombedarf in Deutschland werde bis 2030 gleichbleiben, stellen neuere Rechnungen das Gegenteil heraus.
Die politischen Zauberlehrlinge haben es bis heute nicht versäumt, dieses Jahr von Blut, Schweiß und Tränen zu einer Erfolgsgeschichte umzuschreiben. Die alte Regierung beschwor das Mantra eines „Sommermärchens“, das sich aber aus irgendwelchen Gründen nicht wiederholen dürfe. Wie lebendig das Narrativ ist, zeigt der Wunsch nach einer Migrationsstiftung mit dem Namen Angela Merkels. Die neue Regierung sieht im Jahr 2015 genau jenes „Geschenk“, das dazumal grüne Spitzenpolitikerinnen verzückte. Dieses Geschenk gilt es nun, in politische Währung umzuwandeln. SPD, Grüne und FDP wollen gemeinsam ihr eigenes Erfolgsmärchen kreieren. Der Anspruch lautet: Unter Merkel sind sie migriert, unter uns haben sie sich integriert.
Die Bundesregierung weiß nicht, wie viele Menschen vom neuen Staatsbürgerrecht betroffen sind
Der Koalitionsvertrag sieht daher ein „modernes Staatsbürgerrecht“ vor, das in seiner Tragweite einzigartig in der deutschen Nachkriegsgeschichte sein dürfte. Zitat: „Eine Einbürgerung soll in der Regel nach fünf Jahren möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen nach drei Jahren.“ In Deutschland geborene Kinder bekommen die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil seit fünf Jahren einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der Gastarbeitergeneration wird ein erleichterter Zugang zur Erlangung der Staatsbürgerschaft eingeräumt: Bei mangelnden Sprachfähigkeiten soll es eine „allgemeine Härtefallregelung“ für den erforderlichen Sprachnachweis geben.
Solche hochgesteckten Ziele setzen voraus, dass man weiß, worüber man spricht. Die AfD-Fraktion im Bundestag hat nachgehakt. Die Antwort erfolgte am 21. Dezember. DErgebnis: Die Bundesregierung weiß so gut wie nichts darüber, wie sich eine solche Gesetzgebung auswirken würde. Das Bundesinnenministerium zeigt sich schlicht ahnungslos. Man ist für eine kommende Gesetzgebung gar nicht vorbereitet.
So fragen die Abgeordneten danach, wie viele Personen in Deutschland davon betroffen wären, wenn eine Einbürgerung nach drei bzw. fünf Jahren erfolgen würde. Antwort: Eine belastbare Aussage dazu ist nicht möglich.
Wie viele in Deutschland geborene Kinder mit einem Elternteil, das seit fünf Jahren in Deutschland lebt, könnten von der Regelung profitieren? Zu der Fragestellung liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor.
Wie viele Personen leben derzeit in Deutschland, die nicht über einen für die Einbürgerung erforderlichen Sprachnachweis verfügen? Sie ahnen es: Der Bundesregierung liegen dazu keine Erkenntnisse vor.
Keine Zahlen, keine Folgeabschätzung – wie im Sommer 2015
Der tiefe Eingriff in die Migrationsgeschichte durch die ehemalige Bundeskanzlerin soll mit einem ähnlich tiefen Einschnitt in das Einbürgerungswesen der Bundesrepublik beantwortet werden. Was das alles bedeutet, kann niemand abschätzen. Die Regierung weiß im wahrsten Sinne nicht, was sie tut. Keine Zahlen, keine Folgeabschätzung. Womöglich will man mit solchen Details nicht behelligt werden, gilt es doch, einen großen Plan durchzuziehen.
„Wir schaffen das“, nun im Scholz-Format. Die Mali-Koalition setzt das Werk der Kanzlerin auf anderer Ebene fort. Das Desinteresse an den Folgen für den staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt der Republik ist drittrangig. Nicht nur das erinnert an die Politik des Sommers 2015.