Tichys Einblick
Uneinsichtig

Neues Netzwerk-Überwachungsgesetz offenbar verfassungswidrig

Das „Anti-Hass-Gesetz“ der Justizministerin widerspricht so eklatant dem Grundgesetz, dass selbst der Bundespräsident mit der Unterschrift zögert. Die Politikerin gibt sich trotzdem uneinsichtig.

imago Images/PoliticalMoments

Das im Februar 2020 von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht auf den Weg gebrachte und am 18. Juni beschlossene „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ könnte im letzten Moment scheitern – an der fehlenden Unterschrift des Bundespräsidenten. Die Beamten des Präsidialamtes signalisierten bereits, dass sie das Gesetz in seiner jetzigen Form als „evident verfassungswidrig“ einschätzen. Denn genau so lautet die juristische Formel: das Bundespräsidialamt muss Gesetze prüfen und ist verpflichtet, die Ausfertigung anzuhalten, wenn es ein Paragrafenwerk für „evident verfassungswidrig“ hält.

Grundgesetz bei Merkel egal
„Hass-Gesetz” der Bundesjustizministerin verfassungswidrig!
Um zu diesem Schluss zu kommen, brauchten die Juristen im Bellevue eigentlich nur auf zwei Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag und ein Gutachten des renommierten IT-Rechtlers Matthias Bäcker von der Uni Freiburg zurückzugreifen. Alle drei kamen schon in der Vergangenheit zu dem Schluss: was Lambrecht gegen „Hasskriminalität“ durchsetzen will, passt nicht zum Grundgesetz.

Denn das neue Gesetz – eine Verschärfung des „Netzwerkdurchsetzungsgesetzes“ von Heiko Maas – sieht erstens vor, dass Plattformanbieter wie Facebook und Youtube künftig von sich aus schon bei einem Verdacht auf Volksverhetzung oder Billigung beziehungsweise Androhung von Straftaten den Nutzer bei einer Zentralstelle des BKA melden müssen. Privaten Unternehmen weist das Gesetz also die Aufgabe zu, sich als verlängerter Arm der Strafverfolgung zu betätigen. Zweitens sollten die Netzwerkbetreiber künftig schon bei einem bloßen Verdacht Bestandsdaten ihrer Kunden wie Passwort (beziehungsweise dessen Codierung, den Hashwert) und die IP-Adresse ausliefern.

Eigentlich hätte die Bundesjustizministerin auch nur das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juni 2020 studieren müssen, in dem die Richter wesentliche Teile des Telekommunikationsgesetzes für verfassungswidrig erklärten, genauer: genau jene Herausgabe von Bestandsdaten, die auch das Gesetz gegen „Hasskriminalität“ fordert.

Durchsichtig und chaotisch
Verfolgter Hass, geförderter Hass
„Auch Auskünfte über Daten, deren Aussagekraft und Verwendungsmöglichkeiten eng begrenzt sind, dürfen nicht ins Blaue hinein zugelassen werden. Dazu bedarf es begrenzender Eingriffsschwellen, die sicherstellen, dass Auskünfte nur bei einem auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützten Eingriffsanlass eingeholt werden können“, urteilten die Karlsruher Verfassungswächter. Ein tatsächlicher Anhaltspunkt wäre ein begründeter Tatverdacht beispielsweise auf Volksverhetzung, den Ermittler feststellen. Lambrechts Gesetz will es genau anders herum: erst sollen die Daten geliefert werden – und dann die Ermittler schauen, ob der Verdacht überhaupt begründet ist.

„Ich appelliere eindringlich an den Bundespräsidenten, sich nicht zum Steigbügelhalter verfassungswidriger Gesetzgebung machen zu lassen und die noch anstehende Ausfertigung zu verweigern“, erklärt der FDP-Politiker Stephan Thomae, der eines der Gutachten beim wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages in Auftrag gegeben hatte.

Normalerweise hätten Lambrechts eigene Beamte das Gesetz stoppen müssen. Denn die verfassungsrechtliche Prüfung von Gesetzen gehört zu den Aufgaben des Justizministeriums. In Sonntagsreden bezeichnen sich Justizressort-Chefs deshalb gern als „Verfassungsminister“ beziehungsweise –ministerin. Mit ihrer Paragraphenkreation will die SPD-Politikerin offenbar mit dem Kopf durch die Grundgesetzwand. Lambrecht behauptete immer wieder, „Hass und Hetze“ im Internet hätten solche Ausmaße erreicht, dass nur ein neues scharfes Gesetz die Demokratie retten könne:

„Wir erleben, dass sich unglaublich viele Menschen durch Hasskommentare, durch Hetze im Internet zurückziehen, ihre Meinung nicht mehr äußern. Das heißt, die Meinungsfreiheit und damit auch die Demokratie ist in Gefahr, und deswegen müssen wir da handeln.“

Die tatsächlichen Fallzahlen geben diesen Befund allerdings überhaupt nicht her. Laut Bundesinnenministerium registrierten die Behörden 2018 in sozialen Medien bundesweit 1472 Fälle von „Hasspostings“, im Jahr 2019 1524. Bei allein 38,5 Millionen Facebook-Nutzern in Deutschland und dutzenden Millionen Postings dort und in anderen Netzwerken pro Tag machen so genannte Hass-Einträge also nur einen verschwindend geringen Bruchteil der Internet-Kommunikation in Deutschland aus. Daran änderte auch die mit medialem Trommelwirbel eingerichtete „Zentralstelle für Cyberkriminalität“ des Landes Nordrhein-Westfalen nicht. Obwohl sie Hinweise aus dem gesamten Bundesgebiet sammelte und vor allem öffentlich-rechtliche Sender auf die Behörde hinwiesen, blieb die Zahl der Ermittlungsverfahren sehr übersichtlich. In einem Tagesschau-Interview mit dem Staatsanwalt Christoph Hebbecker von der Zentralstelle für Cyberkriminalität zog der Jurist Ende 2019 eine erste Bilanz:

Meinungsfreiheit im Internet
Her mit den Passwörtern – Was schert die Justizministerin unsere Verfassung
„Wir haben seit Beginn etwa 700 bis 800 Strafanzeigen auf diesem Weg bekommen. In etwa der Hälfte der Fälle – daran sieht man, wie genau wir da differenzieren – haben wir ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das heißt, in allen anderen Fällen sind wir nach der Prüfung zu dem Ergebnis gekommen: Hier liegt kein Anfangsverdacht vor. Wir haben bislang in etwa 120 Beschuldigte identifizieren können. Diese Beschuldigten kommen aus dem gesamten Bundesgebiet. Wir können da örtlich keinen Schwerpunkt festmachen. Und in den ersten Verfahren ist es jetzt auch schon zur Hauptverhandlung gekommen und zu rechtskräftigen Verurteilungen.“

Also: Zentralstelle, Aufstockung von Personal, breite mediale Bekanntmachung – und nach mehr als einem Jahr Arbeit gerade einmal 120 Beschuldigte, die sich auf das ganze Land mit seinen 83 Millionen Einwohnern verteilen. Wie sich daraus eine „Gefährdung der Demokratie“ ergeben soll, wie Lambrecht meint, bleibt ihr Geheimnis. Auf Nachfrage begründete sie die Notwendigkeit ihres Gesetzes mit zwei Studien. Eine Studie bezog sich allerdings gar nicht auf Deutschland. Die andere – erstellt von einer Außenstelle der von der Regierung finanzierten Amadeu-Antonio-Stiftung – kam zu dem Ergebnis, dass gerade acht Prozent der Nutzer sozialer Netzwerke tatsächlich selbst Erfahrungen mit Hass-Postings gemacht hatten, also eine deutliche Minderheit.

Daraus zog die Justizministerin allerdings nicht den Schluss, dass „Hass und Hetze“ im Netz doch nicht so verbreitet sind wie von ihr behauptet. Sondern, dass eben noch viel breiter ermittelt und den Plattformanbietern ein Meldezwang auferlegt werden muss. Notfalls eben am Grundgesetz vorbei.

Die „tagesschau.de“ sekundiert der SPD-Politikerin. Auf tagesschau.de heißt es zu dem gestoppten Gesetz:
„Man befinde sich nun in einer ziemlich vertrackten Situation, wie es in der Bundesregierung heißt. Die neuen Regelungen und Befugnisse zur Bekämpfung der Hasskriminalität würden dringend benötigt. Im Netz werde massenhaft gehetzt und bedroht, und nur selten würden Täter ermittelt und bestraft.“

Lambrecht hielt noch vor wenigen Tagen auf einer SPD-Veranstaltung an ihrem Gesetz fest. Auf den schweren Vorwurf des Bundespräsidialamts, auf Biegen und Brechen ein verfassungswidriges Gesetz durchdrücken zu wollen, schweigt ihr Ministerium bis jetzt.

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