Bis Ende Juli reisten 72.000 Menschen nach Deutschland ein und stellten einen Erstantrag auf Asyl. Diese Zahl wurde in den letzten Tagen schon ein paar mal hin und her gewendet. Aber was bedeutet sie eigentlich? Wie erklärt sie sich und wozu führt sie?
Zwar nutzt laut verschiedenen behördlich durchgeführten Umfragen etwa ein Drittel der Asylbewerber auch Flüge, um nach Deutschland zu gelangen. Laut Auskunft der Bundesregierung reisen die meisten aber auf dem Landweg ein. Übrigens bedeutet auch die Nutzung einer Flugroute auf dem Weg nach Deutschland nicht, dass die Migranten nicht letztlich über eine Landgrenze einreisen. So wussten Experten schon vor drei Jahren von der Athen-Warschau-Route, die in diesem Jahr als Weg der Sekundärmigration nach Deutschland etwas bekannter wurde.
Wie sie kommen
Der Luftweg scheint für die Migranten etwas ungünstiger zu sein, weil ihre Anträge dort häufiger abgelehnt werden. Die meisten Antragsteller sind folglich durch eines oder auch mehrere EU-Partnerländer nach Deutschland gekommen, also durch sichere Drittländer, in denen ihnen nicht Verfolgung droht, sondern Asylanträge möglich sind. Diesen Zustand hat sich Deutschland selbst zuzuschreiben. Seit 2015 gilt es hierzulande als unanständig, die eigenen Grenzen zu kontrollieren und über Migration zu entscheiden. Es geschieht dennoch, aber die deutschen Grenzpolizisten müssen sich dabei quasi vor sich selbst verstecken – zum Beispiel auf griechischen Flughäfen.
Daneben könnte es auch in Deutschland eine größere Dunkelziffer geben, denn nicht jeder irreguläre Einwanderer stellt notwendigerweise einen Asylantrag. So griff die Bundespolizei dieses Jahr bereits mehr als 500 illegal eingereiste Algerier auf, die sonst vielleicht nicht so bald aufgefallen wären. In den vergangenen Jahren sind tausende Algerier irregulär in die EU eingereist, vor allem über Spanien und Italien.
Woher sie kommen
Wie sieht es also an den EU-Außengrenzen im allgemeinen aus? Die Welt am Sonntag zitierte nun Zahlen aus einem internen Bericht der EU-Kommission. Demnach war in diesem Jahr die zentrale Mittelmeerroute über Malta und Italien bei weitem führend, was illegale Ankünfte angeht: In den ersten sieben Monaten dieses Jahres kamen 39.183 Migranten über das zentrale Mittelmeer nach Europa. Das waren 83 Prozent mehr als im entsprechenden Zeitraum des Vorjahres, und sogar sieben Mal mehr im Vergleich zu 2019. Damals hatte Matteo Salvini als italienischer Innenminister den privaten »Seenotrettern« mehrfach die Einfahrt in italienische Häfen verweigert. Heute ist Italien erneut das große Leck der EU geworden, und Salvini will oder kann derzeit nichts dagegen ausrichten.
Ein Sechstel der Neuankömmlinge sind laut Guardian »unbegleitete Minderjährige«. Und laut Mario Draghi werden alle Ankommenden sofort geimpft. Der parteilose Premierminister und frühere EZB-Präsident verteidigte seine Innenministerin Luciana Lamorgese: Sie arbeite sehr gut, das Problem – Immigration – sei heikel, es gebe keinen Zauberstab, der es in einem Augenblick löste. Im übrigen seien die gewachsenen Zahlen natürlich das Ergebnis der »pandemischen Krise«, was immer Draghi darunter versteht. Man habe schon viel schlimmere Jahre erlebt. Man möchte ergänzen: Ja, 2015. Und noch einmal sagt Draghi: Die Ministerin Lamorgese tut ihre Pflicht und tut sie gut. Man kann diesen Worten nur eines entnehmen: Die Entwicklung, wie sie sich jetzt ereignet, mit Steigerungen von 591 Prozent gegenüber dem Prä-Pandemie-Jahr 2019, ist gewollt.
Auch Spanien meldet neue Höchstwerte
Doch nicht nur Italien ist inzwischen wieder weit offen. Auch aus Spanien wird eine beträchtliche Zahl an illegalen Ankömmlingen gemeldet: Insgesamt 20.500 sollen es in diesem Jahr gewesen sein, ein Plus von 47 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das in diesem Fall positiv auffallende Schlusslicht bildet Griechenland, das trotz seiner Nähe zur Türkei seit Jahresbeginn nur 4.577 illegale Migranten meldete, die das Land auf dem See- oder Landweg erreichten.
Allerdings bleibt auch weiterhin unklar, wie viele Migranten unter dem Radar über Griechenland und Bulgarien auf den Balkan gelangen. Die griechischen Behörden haben zwar, Pressemeldungen zufolge, im letzten Halbjahr unzählige Schlepper aufgegriffen und auch einige größere Ringe ausgehoben. Aber diese Meldungen belegen eben auch, dass es nach wie vor Schlepper und illegale Migranten gibt, die in Griechenland und auf dem Balkan unterwegs sind. Es bleibt viel Arbeit zu tun, auch wenn die Abschreckung zu funktionieren scheint. Auch der Grenzzaun am Evros von jetzt 40 Kilometern wird vermutlich noch länger werden.
Inzwischen gelangen mehr Migranten auf dem direkten Seeweg von der Türkei aus nach Italien als nach Griechenland (TE wies im Dezember auf die neue Route hin). Die WamS berichtet von 4.739 irregulären Einreisen über das Ionische Meer. Allein in der letzten Woche sind 670 Migranten auf diesem Wege von der Türkei nach Italien gelangt. Auch insgesamt sah Italien in der 35. Kalenderwoche dieses Jahres einen Höchststand von 3.236 angelandeten Migranten. Es ist die höchste wöchentliche Zuwanderungsrate seit Juli 2017.
Seit Beginn der Seenotrettung werden die Migrantenboote schlechter
Das Tun oder Nicht-Tun der italienischen Innenministerin Lamorgese hat womöglich nichts mit Humanität zu tun. Seit langem ist bekannt, welchen Anreiz die positiven Meldungen über Anlandungen und »Seenotrettungen« für die Tätigkeit der Schlepper in Nordafrika entfalten.
Laut einer Studie der Universitäten Cagliari, Turin und Houston haben sich die nordafrikanischen Schlepper schon seit längerer Zeit auf die Aktivitäten diverser »Seenotretter« rund um Italien eingestellt. Sie verwenden demnach immer schlechtere Boote (seit einigen Jahren vor allem Schlauchboote) und schicken sie bei schlechterer Wetterlage los. Insofern bleibt nur ein Schluss: Die Seenotrettung gefährdet Leben und kostet den europäischen, insbesondere den deutschen Steuerzahler zugleich eine Menge Geld, ohne dass überhaupt von den immateriellen Kosten der irregulären Einwanderung die Rede gewesen wäre.
Denn über die materiellen Kosten hinaus richten zwei Aspekte der irregulären Einwanderung in den Zielländern besonderen Schaden an: Erhöhte Kriminalitätsraten bedeuten für die Betroffenen häufig unermessliches, nicht wiedergutzumachendes Leid. Zum anderen betrifft eine überproportionale Arbeitslosigkeit vor allem das Leben der neu angekommenen Migranten, aber nicht nur. Denn am Ende kann eine ganze Gesellschaft dadurch ihren Halt verlieren.