Immer mehr Leuten scheint aufzufallen, wie wenig präsentabel Ursula von der Leyen als EVP-Spitzenkandidatin und implizite Kandidatin für den Chefjob in der nächsten Kommission eigentlich ist. Auch sie selbst scheint das gewissermaßen einzusehen, indem sie Debatten mit anderen Spitzenkandidaten scheut, als ob sie die als Amtsinhaberin nicht nötig hätte. Anscheinend hält sie sich – als das Brüsseler Kind, das sie in den zwölf ersten Jahren ihres Lebens war – für die geborene Kommissionspräsidentin, unanzweifelbar, allem demokratischen Streit enthoben.
Nun ist UvdL im Ernst untragbar geworden – nicht für die CDU an sich, wohl aber für deren Wahlplakate, die Carsten Linnemann letzte Woche in Berlin präsentierte. Angeblich sollen die brandneuen Photo-Motive, die man schon von ihr gemacht hat, erst in der Schlussphase der Kampagne zum Einsatz kommen, wenn man den Beistand der Kandidatin besonders zu brauchen meint. Das erfuhr Bild auf Nachfrage. Solange begnügt man sich bei der CDU mit sinnleeren Sinnsprüchen wie „Sicherheit braucht Ihre Stimme“ oder „In Freiheit. In Sicherheit. In Europa“. Aber Freiheit oder Sicherheit stellen sich nicht schon durch Aussprechen oder Abdrucken der Worte her. Nein, es wären Taten gefragt gewesen, schon vor vielen Jahren.
Nun sind die Unionsparteien also vage unzufrieden mit der Spitzenkandidatin. Sie hätten es eigentlich besser wissen können. Auf dem EVP-Kongress in Bukarest im März fehlten UvdL bereits die Stimmen der französischen Konservativen und einiger slowenischer Teilparteien. Die Franzosen warfen der Kommissionschefin vor, eine „technokratische Tendenz“ innerhalb der EU zu verkörpern und die „Kandidatin von Emmanuel Macron und nicht der Rechten“ zu sein. Von der Leyen habe sich mit der „Anti-Wachstums-Politik der Linken“ und dem „antinuklearen Dogma der Ökologisten“ verbündet, sei auch bei der Sicherung der EU-Außengrenzen gescheitert, hieß es in Ciottis Brief vom 5. März. Die Nähe zu Macron schärfte hier den Blick. Aber auch für die Républicains folgte daraus nicht Austritt aus der EVP, sondern die Abwesenheit beim Wahlkongress.
Nun will selbst die Wetterfahne Söder kein Verbrenner-Aus mehr
Dass der offene Brief eine zutreffende Beschreibung der ersten Amtszeit von der Leyens ist, scheint inzwischen auch in der Union wieder aufzufallen. Sogar die personifizierte Wetterfahne Markus Söder hat sich nun gegen das Verbrenner-Aus via EU-Beschluss gestellt, obwohl Söder natürlich noch 2020 selbst ein Verbrennerverbot ab 2035 gefordert hatte. Daher blies eben damals der grüne Wind, nun kommt er aus der entgegengesetzten Richtung. Im neuen EU-Parlament wird ein Verbrenner-Aus wohl ohnehin keine großen Chancen mehr haben, ebenso wie viele andere der ökologistischen Politiken, die durch eine rechte Mehrheit abgelehnt werden dürften, wie sie auch im Rat der Staats- und Regierungschefs immer deutlicher wird.
Trotzdem will niemand die Wahl der Kandidatin rückgängig machen. Aber es könnte ja ganz genauso laufen wie bei ihrer eigenen Inthronisierung: Dem offiziellen Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU) wurde damals von der Leyen vorgezogen. So könnte man morgen wieder einen Kommissionschef aus dem Hut zaubern, der besser in die aktuellen Machtverhältnisse in der EU passen würde. Und der wachsende Widerstand gegen die Kandidatin UvdL zeigt sich auch genau daran: dass die Liste möglicher Alternativkandidaten wächst. Neben dem kroatischen Premierminister Andrej Plenković und EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola wird nun auch der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis ins Gespräch für die Nachfolge seiner Busenfreundin Ursula von der Leyen gebracht.
Die kritisch-konservative Athener Tageszeitung Estia hatte dieses Gerücht schon zu Jahresbeginn verbreitet. Mitsotakis bereitet sich demnach schon seit geraumer Zeit für neue Aufgaben vor. Das sei auch der Grund dafür gewesen, das Gesetz zur griechischen „Ehe für alle“ so eilig durch das Parlament zu bringen, obwohl der Gesetzentwurf in breiten Teilen der Wählerschaft – zumal der konservativen – so unpopulär ist, dass das auch einen liberalen Zentristen wie Mitsotakis aus der Bahn werfen könnte.
Neuanfang mit Mitsotakis in Berlaymont?
Nun ist Mitsotakis nicht von Abwahl gefährdet, dazu sind die Alternativen in Griechenland (noch) zu schwach. Aber ein EU-Amt würde durchaus zum Profil des Griechen passen, der in Griechenland einiges erreicht hat und vielleicht nicht mehr viel darüber hinausgehen kann. Im Gegenteil, nun warten die Mühen der Ebene auf ihn, zum Beispiel in Sachen einer Mittelstandsförderung, die noch nicht wirklich Wachstum generiert. Derweil hat das Bahnunglück im Tempi-Tal gezeigt, dass noch nicht alles zum Besten in Griechenland steht, was die ordnungsgemäße Verwendung von (auch EU-) Geldern angeht. Diesem Sumpf könnte Mitsotakis vorschnell entfliehen wollen, vielleicht zugunsten eines sauberen Neuanfangs in Berlaymont.
Dabei ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass die übergroße Koalition aus EVP, S&D und Renew schlicht durch eine supergroße Variante unter Einschluss der dann wohl auch leicht geschrumpften Grünen ersetzt wird. Aber allen Beteiligten dürfte klar sein, dass das neue Parlament anders funktionieren wird als bisher: Mehrheiten jenseits der quasi offiziellen Parlaments-Koalition werden häufiger werden. Eine „Brandmauer“ im deutschen Sinn gibt es im EU-Parlament ohnehin nicht. Schon in der zu Ende gehenden Legislaturperiode haben EVP, die Konservativen und Reformisten (EKR) und die ID-Fraktion (mit AfD und Rassemblement) bei vielen Gesetzesprojekten zusammen abgestimmt, vor allem, was die Rückabwicklung des ökologistischen New Green Deals der EU angeht. Diese Tat ist noch nicht vollendet. Dass sie weitergeht, dafür spricht einiges.