Tichys Einblick
Frage nach der Dunkelziffer

Paul-Ehrlich-Institut sucht nach Klarheit über Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe

Die Zahl erfasster schwerer Impfnebenwirkungen ist sehr gering. Das Paul-Ehrlich-Institut verschafft sich mit der App SafeVac 2.0 einen Eindruck über die Dunkelziffer. Neue Zahlen zeigen nun: Nutzer der App reichen öfter Verdachtsmeldungen ein als Ärzte und Betroffene über das offizielle Meldesystem.

SafeVac App auf einem Smartphone zum Melden von Impfnebenwirkungen

IMAGO / Eibner

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) veröffentlicht monatsweise den Sicherheitsbericht über Impfnebenwirkungen. Um sich einen Eindruck über die Dunkelziffer zu verschaffen, hat die Behörde außerdem die App SafeVac 2.0 lanciert. Darüber können einmalig oder vollständig Geimpfte über die Verträglichkeit der Impfstoffe berichten. Bislang nutzten rund 725.000 Geimpfte die App – das sind rund 1,2 Prozent aller bis zum 30. November Geimpften, wie das PEI im Sicherheitsbericht erklärt.

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Dabei springt ins Auge: Über SafeVac 2.0 werden viel öfter schwere Nebenwirkungen gemeldet als über das offizielle Meldesystem. Insgesamt gingen bislang rund 2800 Meldungen ein. Das entspreche einer Verdachtsrate von 0,39 Prozent, heißt es im Sicherheitsbericht. Zum Vergleich: Beim offiziellen Meldesystem berichtet das PEI von einer Verdachtsrate schwerwiegender Nebenwirkungen von 0,2 pro 1000 verimpften Dosen. Grob gerechnet – wenn man davon ausgeht, dass die Zahl der bei beiden Impfungen unter schweren Nebenwirkungen leidenden Patienten minimal ist – bedeutet das: Bei rund vier von 10.000 doppelt Geimpften könnten bei der ersten oder zweiten Impfung schwere Nebenwirkungen vorliegen – also bei 0,04 Prozent. Die Verdachtsrate bei der App liegt aber zehnmal so hoch – bei 0,39 Prozent.

Das PEI schätzt die Dunkelziffer dennoch gering ein. Auf TE-Anfrage erklärt die Arzneimittelbehörde, die große Bereitschaft der Geimpften, an SafeVac 2.0 teilzunehmen, und die milliardenfachen Impfungen weltweit wiesen darauf hin, dass man bereits über ein „sehr umfassendes Bild“ von möglichen Nebenwirkungen verfüge. „Wir gehen daher nicht von einer hohen Dunkelziffer bei der Meldung von Verdachtsfällen auf Impfnebenwirkungen und Impfkomplikationen nach einer Impfung mit einem der zugelassenen COVID-19-Impfstoffe aus.“

In Deutschland gebe es sowohl gesetzliche Meldepflichten als auch – für alle Statusgruppen – die freiwillige Möglichkeit zur Meldung. Das PEI habe auf Grundlage dieses Meldesystems „sehr frühzeitig“ das Risiko von Sinus- und Hirnvenenthrombosen, zum Teil in Kombination mit Thrombozytopenie, zunächst für den Vektorimpfstoff Vaxzevria (AstraZeneca) entdeckt und zusammen mit Norwegen in die Bewertung des europäischen Komitees für Arzneimittelsicherheit PRAC gebracht. Dadurch wurde die inzwischen als Thrombose-mit-Thrombozytopenie Syndrom (TTS) bekannte Reaktion als Nebenwirkung in die Produktinformationen der Vektorimpfstoffe aufgenommen.

Die Daten aus der sogenannten Spontanerfassung, mit denen das PEI arbeite, stünden im Einklang mit den Daten anderer europäischer Mitgliedstaaten. Außerdem zeige jahrzehntelange Erfahrung, dass gerade bei neuen oder neu entwickelten Impfstoffen die Meldefreudigkeit sehr hoch sei. Unterstützt werde dies durch mediale Berichterstattung zu den Impfstoffen und ihren Sicherheitsprofilen, die die öffentliche Aufmerksamkeit ebenso wie die der Fachöffentlichkeit steigerten.

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Kritische Mediziner argumentieren indes, dass das Bewusstsein für Nebenwirkungen bei Ärzten gering sei, die im offiziellen Meldesystem die meisten Meldungen einreichten. „Von vielen niedergelassenen Kollegen weiß ich, dass eine Verbindung von Gesundheitsschäden mit der Impfung oft von vorne herein nicht gesehen wird, sodass für sie eine Meldung nicht in Frage kommt“, sagt der Medizinprofessor Paul Cullen. Auch ein Hausarzt, der bloß über 70-Jährige impft, findet, dass die Ärzteschaft nicht kritisch genug hinschaue. Etwa veröffentliche ein anerkanntes und viel gelesenes Fachmedium kaum Berichte über Nebenwirkungen, sagt der Mann, der anonym bleiben möchte.

Paul Cullen schrieb kürzlich in einem TE-Beitrag, man gehe davon aus, dass die Dunkelziffer bei schweren Nebenwirkungen einschließlich Verdachtstodesfällen mindestens fünfmal so hoch sei. Auch kritische Hausärzte schätzen aufgrund der eigenen Erfahrungen in der Praxis, dass die Nebenwirkungsrate zehnmal höher sein könnte, als vom PEI erfasst (TE berichtete).

Das PEI selbst hat in seinem Bulletin zur Arzneimittelsicherheit einen Fachartikel veröffentlicht, laut dem bloß eine kleine Minderheit der unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) überhaupt gemeldet wird. „Nur etwa sechs Prozent aller UAW und fünf bis zehn Prozent der schweren UAW werden Schätzungen zufolge gemeldet (underreporting)“, schreiben die Autoren in dem Text, der in der ersten Ausgabe des Jahres 2017 erschienen ist. Das entspricht einer Unterschätzung um den Faktor 10 bis 20. Auch US-Studien kommen laut einem Fachartikel zum Schluss, dass die Dunkelziffer beim amerikanischen Meldesystem VAERS um den Faktor 2 bis 8 höher ist. Eine Metastudie aus der Fachzeitschrift Drug Safety berichtete von einer Dunkelziffer um den Faktor 6,5 bei schweren Nebenwirkungen. Demnach lag der Median der sogenannten underreporting rate über 19 Studien hinweg bei 85 Prozent.

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Die Frage der Dunkelziffer ist brisant: Der aktuelle Sicherheitsbericht meldet rund 26.200 Verdachtsfälle von schweren Nebenwirkungen und 1900 Verdachtstodesfälle. Bei einem Underreporting um den Faktor 10 und der Annahme, dass bei einem Viertel der Verdachtsfälle ein ursächlicher Zusammenhang zur Impfung besteht, steigen die Zahlen deutlich. Dies entspräche knapp 5000 Todesfällen und 65.000 schweren Nebenwirkungen in der bisherigen Impfkampagne. Kritische Mediziner fordern deswegen eine systematische Untersuchung der Verdachtsfälle und Obduktionen von Verdachtstodesfällen.

Das PEI sagt auf TE-Anfrage, dass neben der Beobachtungsstudie SafeVac 2.0 eine weitere Studie mit dem Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryotoxikologie der Charité in Berlin laufe. Die prospektive Beobachtungsstudie untersuche die Sicherheit und Verträglichkeit der Corona-Impfstoffe in der Schwangerschaft. „Der Schwangerschaftsverlauf und das Befinden des Neugeborenen nach Impfung der Mutter werden dabei systematisch erfasst und ausgewertet werden“, schreibt die Behörde. Außerdem sei eine retrospektive Studie auf Basis von elektronischen Gesundheitsdaten der gesetzlichen Krankenkasse geplant.

Die Frage nach der Dunkelziffer
Skeptische Hausärzte berichten über Impfnebenwirkungen
Bei den Auffrischungsimpfungen zeigen die Daten von SafeVac 2.0 indes keine schwerwiegenden Nebenwirkungen. Bis zum 30. November hätten sich rund 20.000 Geboosterte registriert, berichtet das PEI im Sicherheitsbericht. Unter den Meldungen sei aber keine einzige schwere Nebenwirkung. Die am häufigsten berichteten Beschwerden waren vorübergehende Schmerzen an der Injektionsstelle, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Unwohlsein, Fieber, Schwellung an der Injektionsstelle, Schwindel, Gelenkschmerzen und Schüttelfrost.

Über das offizielle Meldesystem, an das Mediziner Impfnebenwirkungen aufgrund einer gesetzlichen Bestimmung melden müssen, gingen rund 197.000 Verdachtsmeldungen ein. Davon betrafen rund 26.200 schwerwiegende Nebenwirkungen – etwa gab es 265 Verdachtsfälle einer Thrombose mit Thrombozypotenie. Der Bericht spricht auch von 1919 Todesfällen, die zwischen 0 und 289 Tagen nach einer Corona-Impfung passierten. Bei 78 Verdachtstodesfällen hält das PEI einen Zusammenhang mit der Impfung für „möglich oder wahrscheinlich“, wie es im Bericht heißt.

Insgesamt betrug die Verdachtsrate 1,6 Nebenwirkungen pro 1000 Impfdosen, bei schweren Nebenwirkungen 0,2. Vereinfacht gerechnet könnten also 3 von 1000 vollständig Geimpften von Nebenwirkungen betroffen sein. Von allen vier zugelassenen Impfstoffen sind die Verdachtsraten bei dem Biontech-Impfstoff am geringsten.

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