Was für eine hässliche Gemengelage rund um den Umgang mit den Hinterbliebenen der Opfer vom Breitscheidplatz. Die Kanzlerin ist zu zögerlich, der Opferbeauftragte Kurt Beck diskutiert quasi öffentlich die Höhe der Auszahlungen aus dem Härtefonds für Angehörige, die im europäischen Vergleich blamabel ist und die Grünen fordern in seltener Einigkeit mit der FDP einen Untersuchungsausschuss, der klären soll, welche Versäumnisse die Behörden in Prävention und Nachsorge begangen haben. Dabei ist schon jetzt klar: Es waren haarsträubende Versäumnisse. Die Überwachung des Täters erfolgte nur bis Freitag, 17.00 Uhr. Danach kehrt in der Berliner Sicherheitsbehörde Feiertagsruhe ein.
Die Opfer bleiben allein
Schon als es wenige Tage nach dem Anschlag darum ging, im Bundestag der Opfer zu gedenken, führte erst öffentlicher Druck zu einem konkreten Termin. Der damals amtierende Bundestagspräsident Norbert Lammert erklärte dann am 19. Januar 2017 im Deutschen Bundestag, es gehöre „zu den kaum vermeidbaren, aber schwer erträglichen Mechanismen der Wahrnehmung solcher Ereignisse durch die Medien und die Öffentlichkeit, dass dem Täter regelmäßig weit größere Aufmerksamkeit geschenkt wird, als denen, die er in den Tod riss.“
Lammert machte also schon wenige Wochen nach dem Attentat klar, wer jetzt einer besonderen Zuwendung bedarf. Es geschah indes kaum etwas. Die Geduld der Menschen währte lange. Erst ein Jahr später ging sie dann doch einmal zu Ende. In einem erschütternden Brief warfen Angehörige aller zwölf Mordopfer der Bundeskanzlerin Versagen vor. Einige von ihnen wurden selbst verletzt oder waren Helfer der ersten Minuten und Stunden auf dem Breitscheidplatz. Bemängelt wird in dem Schreiben nicht nur der Umgang mit ihnen selbst, sondern auch die Anti-Terror-Arbeit der Bundesregierung. „Frau Bundeskanzlerin, der Anschlag am Breitscheidplatz ist auch eine tragische Folge der politischen Untätigkeit Ihrer Bundesregierung.“
Ignoranz dem Leid gegenüber
Was die Öffentlichkeit hier zum ersten Mal erfährt, ist, dass die Bundeskanzlerin es ein ganzes Jahr lang versäumt oder nicht einmal für nötig erachtet hatte den Angehörigen persönlich zu kondolieren. Nein, schlimmer, sie tat es nicht einmal schriftlich: „In Bezug auf den Umgang mit uns Hinterbliebenen müssen wir zur Kenntnis nehmen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie uns auch fast ein Jahr nach dem Anschlag weder persönlich noch schriftlich kondoliert haben. Wir sind der Auffassung, dass Sie damit Ihrem Amt nicht gerecht werden.“ Das erste offizielle Schreiben deutscher Behörden kam 22 Tage nach dem Anschlag von Bundesjustizminister Heiko Maas nur an einen Teil der Familienangehörigen. Der Täter, ein Flüchtling der längst als Gefährder galt, vom Drogenhandel lebte und sein Morden angekündigt hatte, der Täter störte die Inszenierung der Bundesregierung. Mehr noch störten die Angehörigen der Opfer. „Die Angehörigen irrten noch durch Spitäler und Polizeistationen auf der Suche nach ihren Liebsten, da wurden die Toten offiziell schon in schnellstmöglicher Art und Weise geradezu verscharrt. Nur schnell weg damit aus der sichtbaren Öffentlichkeit! Es sollte kein Schatten auf die Willkommenskultur fallen. Merkel als Engel der Entrechteten weltweit sollte nicht befleckt werden mit dem Blut derer, die den Preis für die Inszenierung zahlen. Das ist Zynismus pur“.
Keine Zeit für die Betroffenen
Erst zwei Monate später lud der Bundespräsident ins Schloss Bellevue. Anwesend war dabei auch der Bundesinnenminister. Noch einmal einen Monat später wurde Kurt Beck zum Beauftragten der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenen. Angela Merkel selbst nahm aber weiterhin Abstand von einem direkten Kontakt. In der Zwischenzeit veranstaltete sie dutzende Wahlkampfaufritte in der Öffentlichkeit und trat mehrfach im Fernsehen auf. Ihre originäre Aufgabe übernahmen dann Männer wie der Berliner Anwalt Roland Weber als ehrenamtlicher Opferbeauftragter. „Er versuchte vor allem in den entscheidenden ersten Wochen nach dem Anschlag, die Familien so gut es ging zu unterstützen und benötigte Informationen zusammenzustellen.“, schreiben die Angehörigen in ihrem Brief an Angela Merkel.
Der ehemalige französische Präsident Hollande enthüllte wenige Wochen vor dem Attentat am Berliner Breitscheidplatz am Stade de France eine Gedenktafel mit allen 130 Namen der Opfer islamistischer Attentate in Frankreich. Überall im Land wurden Schweigeminuten abgehalten und die Namen der Opfer verlesen. So schrecklich es klingen mag, aber die Bundesregierung hätte hier ihre passende Blaupause gehabt. Stattdessen muss, wer den Opfern ein Gesicht geben will, wer wissen will, wie die Menschen hießen, die in Berlin ermordet wurden, auf die Recherchearbeit einer Facebookerin zurückgreifen (ohne Gewähr).
Spätes Gedenken: Ein Riß zwischen Volk und Regierung
Zwischenzeitlich wurde dann doch noch eine Gedenkstätte ausgeschrieben, entworfen und bewilligt, die zum Jahrestag des Attentates offiziell eröffnet werden soll: „Ein Riss, der den Boden am Breitscheidplatz durchschneidet, soll mit einer goldfarbenen Legierung aufgefüllt werden, und an der Vorderseite der Stufen vor der Kirche werden Namen und Herkunftsländer der zwölf Opfer eingesetzt.“
Der tiefe Riss zwischen den Hinterbliebenen und der Bundeskanzlerin will Angela Merkel nun ein Jahr später nach massivem öffentlichem Druck endlich versuchen zu kitten. Ihren Regierungssprecher ließ sie im Vorfeld als Reaktion auf den Brief der Angehörigen erklären, die Kanzlerin wolle nun „zuhören und genau wissen, was es ist, das den Angehörigen eine ungeheuer schwere Zeit möglicherweise unnötig noch schwerer gemacht hat.“ Endlich. Zu spät?
Vielleicht ist ja in dieser Sache kein Platz für Vorwürfe und böse Worte über dieses staatliche wie persönliche Versagen der Bundesregierung und Angela Merkels. Zu persönlich, zu schmerzhaft der gesamte Vorgang. Der Moment gehört nun den Angehörigen, die uns im Anschluss an das Gespräch möglicherweise berichten werden, wie Angela Merkel ihnen und Ihrem Schmerz begegnet ist.
Die Bundesvorsitzende der Opferhilfsorganisation Weißer Ring, Roswitha Müller-Piepenkötte, forderte mehr Unterstützung für Betroffene: „Der Staat muss eine Krisenkoordinationsstelle einrichten.“ Und weiter: „Terroropfer brauchen einen Rechtsanspruch auf Schmerzensgeld gegenüber dem Staat.“ Sicher eine berechtigte Forderung, abzuleiten aus den genannten Versäumnissen.
Aber eben auch ein Vorhaben, das heute schon die Attentate der Zukunft verwalten will und muss. Das Versagen der Verfolgungsbehörden wird hier mit einkalkuliert. Beim nächsten Mal wird Angela Merkel oder ihr Nachfolger im Amt sicher schneller bei den Angehörigen sein. Den Opfern allerdings wird es auch in den zukünftigen islamistischen Mordanschlägen nicht mehr helfen.