Wer ist schuld an der AfD? Diese Frage zieht sich durch die Beiträge der Sonntagsleser auf Tichys Einblick. Direkt oder indirekt. Das trifft natürlich auch auf alle anderen Medien des Wochenendes zu. Auf die Gespräche vieler Leute am Palmsonntag.
Bei so viel Kritik an Journalisten darf ich auch mal darauf hinweisen, dass sie es nicht leicht haben. Wer täglich viele Leserkommentare sieht, weiß warum. Nicht wenige, die „Lügenpresse“ deklamieren, haben gar nichts gegen das, was sie „lügen“ nennen, sondern wollen, dass für die Richtigen „gelogen“ wird statt für die Falschen.
Hans-Peter Canibol macht das am SPIEGEL-Cover fest und an ungewohnter Flexibilität:
In den Beiträgen zum Titel erfahren die Leser nicht zum ersten Mal, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel macht, was sie will. Folgerichtig müsste der Titelzeile lauten: „Die da oben machen doch, was sie wollen.“
Sensibilisiert durch das Schlagwort „Lügenpresse“ schiebt das Magazin die „Lüge“ weiter auf die nächste Instanz, die Kanzlerin.
Vor fünf Wochen noch war Frauke Petry als Hasspredigerin auf dem Cover. In dieser Ausgabe nun erklärt Dirk Kurbjuweit im Leitartikel „Herzlich willkommen“ die AfD zur Partei der Mitte. Und Nils Minkmar deklariert in „Endlich mal was los“ den Wahlausgang als Chance auf eine Renaissance der Politik.
Sofia Taxidis geht dem Wechselspiel zwischen dem FOCUS-Titel „Das nahe GLÜCK“ und dem – ja was? – Ko-Titel? des Petry-Portraits nach.
Da ist es, das „neugierige Porträt” von Frauke Petry. Auf Seite 22/23 das doppelseitige Bild von ihr hinter dem Lenkrad des Familien-Vans, gerade beim Einparken. Also nochmal – der Titel lautet: „Die Frau, die gerne überholt“ und das Bild dazu zeigt sie beim Einparken. Die Woche war das jedenfalls nichts mit Titel und Bild beim FOCUS. Das geht besser. Die kommt ja beim Überholen nicht vom Fleck! Oder ist das doppeldeutig und darauf gemünzt, dass die AfD derzeit gar nichts machen muss und trotzdem immer weiterfährt?
Roland Tichy findet in der FAS keine klare Linie, ich nicht bei der ZEIT, bei der WamS am ehesten:
„Alternative für Antikapitalisten“: Die FAS setzt sich mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der AfD auseinander und Ralf Bollmann staunt: Das ist ja gar nicht neo-liberal, sondern streckenweise schlicht antiliberal. Auch die Wähler sind nicht rechte Erzkapitalisten, sondern eher einfache Angestellte und Arbeiter. Den nächsten Schritt aber wagt der Autor nicht – festzustellen, dass sich hier eine neue Querfront mit den Linken öffnet. Aber Frauke Petry als Wiedergängerin der von der FAS so auffällig hofierten Sahra Wagenknecht und ihrer anti-modernen, anti-kapitalistischen und anti-amerikanischen Thesen: Das geht zu weit, wenn sich Geschichte wiederholt.
Diese Verbindung stellt die WamS mit der Kurzmeldung her “Linke wirbt um AfD-Wähler“, in der sie Sahra Wagenknecht zitiert:
- ‘Natürlich darf man nicht pauschal alle Menschen, die sich angesichts hoher Flüchtlingszahlen noch stärker um Arbeitsplätze, Sozialleistungen, Wohnungen und steigende Mieten sorgen, in eine rassistische Ecke stellen. Das gilt auch für Wähler der AfD.’
- Nach den Ergebnissen bei den drei Landtagswahlen müsse die Linkspartei darüber nachdenken, warum sie zu ‘einem erheblichen Teil frühere Wähler verloren hat’“.
ZEIT, Frontseite, Tina Hildebrandt, “Jetzt geht es erst richtig los”:
- Irrtum1: Eine Mehrheit findet Merkels Flüchtlingspolitik gut.
- Irrtum 2: Die SPD ist eine Volkspartei …
- Irrtum 3: Die AfD ist ein Randphänomen.
ZEIT, Seite 3, Matthias Geis und Gero von Randow, “Keine Angst vor der AFD”: Sie schildern die Parteienszene in Europa und kommen zum Schluss: “Zwar sind 20 Prozent ein beunruhigendes Ergebnis für eine rechte Partei. Aber erst wenn die restlichen 80 Prozent sich nach ihr richten, wird es bedrohlich.” Das klingt halb nach weiter ausgrenzen.
Insgesamt ist die journalistische Landschaft in Bewegung, auch in dem an diesem Wochenende nicht besprochenen Fernsehen. Der Bewertungswandel vollzieht sich vor unseren Augen.
Ein Beitrag kommt in den Rezensionen nicht vor. Thomas Assheuer, der sich mit diesem Themenkreis kontinuierlich auseinandersetzt, schrieb in der ZEIT über „Rechte Denker“. Er erinnert an Ulrich Beck, der schon vor fünfzehn Jahren einer „stillgestellten Politik“ prophezeit habe, „dass früher oder später rechte Bewegungen ungeahnten Zulauf erhalten und ein Erdbeben auslösen würden. Die Quelle ihrer Macht liege darin, ‚dass die Motive und Themen der in der europäischen Moderne angelegten Gegenaufklärung – der Kampf gegen den Verfall, die Wiedergeburt der alten Werte und Gemeinschaften – auf die aktuellen Tabus radikalisierter Modernisierung angewendet werden’“.
Assheuer meint, genau so sei es gekommen: „Angenommen, die europäische Rechte erhielte weiter Aufwind und Donald Trump würde US-Präsident, dann könnte man sich durchaus ein neues, postliberales Zeitalter vorstellen, eine Ära der Halbdemokratien mit autoritären Regierungen, staatsfrommen Medien und gegängelten Gerichten.“
Halbdemokratien mit autoritären Regierungen, staatsfrommen Medien und gegängelten Gerichten? Haben wir das nicht schon recht weitgehend und ist die AfD nicht vor allem das Ergebnis dieser Fehlentwicklung? Jedenfalls liegen die ihrer Funktion klammheimlich beraubten Parlamente, ent-politisierten Parteien und auf unterhaltende Skandalisierung von Personen fixierten Massenmedien historisch vor der Gründung der AfD und ihren aktuellen Wahlerfolgen.
Der Titel des Tetxtes von Tina Hildebrandt, da bin ich sicher, stimmt: “Jetzt geht es erst richtig los.” Ich wage mal eine Prognose: Der lange Zeit sehr breite Konsens der unpolitischen Ära seit Beginn der Berliner Republik nähert sich seinem Ende. Das ist mindestens spannend – und insofern gut für Journalisten, wenn sie ihre Chance in der Krise beim Schopf ergreifen.